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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Wenn eS schon befremdet, daß der Dichter sich plötzlich erinnert, seine
Geliebte ohne sein Wissen umgebracht zu haben, so ist die Stimme des Friedens
aus der Hölle vollends gegen alle Convenienz, denn die Hölle ist kein Ort
des Friedens. -- Unter den neuesten Romanen haben wir nicht viel Bedeutendes
aufzuzählen, wir erwähnen zunächst: Deutsche Liebe. Aus den Papieren
eines Fremdlings. Leipzig, Brockhaus, 1837. DaS Buch zeichnet sich durch
eine zarte Empfindung aus; die Gestaltungskraft ist nicht groß. Ferner sind zu
erwähnen: Trauter Herd und fremde Woge. Seenovellen von M. so-
litaire. Leipzig, H. Matthes. 1857. Koralla. Eine humoristische Stadt¬
geschichte von M. solitaire. Leipzig, H. Matthes. 1836. Dunkler Wald
und gelbe Düne. Zwei Novellen von M. solitaire. Leipzig, H. Mat-
thes. 1836. Die Novellen sind das Gegentheil der vorigen; sie enthalten
eine sehr muntere, lebhafte Anschauung, die Gestalten treten in scharfen Zügen
hervor, aber der Geschmack und das künstlerische Gefühl lassen viel zu wünschen
übrig. Unter den Gedichtsammlungen erregen das meiste Interesse die Gedichte
von R. Prutz, vierte verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig, I. I. Weber.
Sie sind ganz subjektiver Natur. Der Dichter gibt in ihnen gewissermaßen
den Abriß seines Lebens, wenigstens die Stimmungen, in denen sich dasselbe
reflectirt. Im Gegensatz zu den Jugendgedichten, in denen die Rhetorik über¬
wiegt, vernehmen wir in einzelnen Strophen der letzten Lieder einen Schrei
des Herzens, dessen Realität sich nicht bezweifeln läßt, und der daher in
gewissem Sinn einen poetischen Eindruck macht. Aber freilich ist dieser Eindruck
kein erfreulicher. Während in den politischen Liedern von 1840 die Hoffnung
und der Glaube überströmt, herrscht in den Gedichten von 1834 :c. eine
Hoffnungslosigkeit, deren niederschlagender Eindruck nur selten durch ein künst¬
liches Aufraffen unterbrochen wird. Dort spottet der gläubige jugendliche
Dichter der Weisheit des Alters, die sich dem Enthusiasmus entzieht und alle
Illusionen durch Vernunftgründe auflöst; hier ist er selber in diesem Stadium
des Alters, nur daß an Stelle der Lebensweisheit eine unheimliche Verstim¬
mung sich seiner bemächtigt hat; ja mitunter spricht der Dichter, der, wenn
wir nicht irren, vierzig Jahre zählt, im Ton eines Greises, der mit dem König
SaloMo ausruft: Alles ist eitel. Es liegt nicht in unserer Ausgabe, nach
individuellen Motiven zu suchen; wir sehen aber in dieser Entwicklung zugleich
das Bild einer ganzen Generation, die einflußreich genug gewesen ist, um eine
ernste Aufmerksamkeit zu verdienen.

Wenn man die lyrische Periode von 1840 bis 1843 anklagen will, so
muß man den Vorwurf nicht auf die Dichter beschränken. Heute ist freilich
alle Welt der politischen Poesie entfremdet, damals war aber alle Welt von
Herwegh berauscht, bis in die allerhöchsten Regionen hinauf. Die Zuversicht,
mit welcher die jugendlichen Dichter damals das Evangelium der Freiheit ver-


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Wenn eS schon befremdet, daß der Dichter sich plötzlich erinnert, seine
Geliebte ohne sein Wissen umgebracht zu haben, so ist die Stimme des Friedens
aus der Hölle vollends gegen alle Convenienz, denn die Hölle ist kein Ort
des Friedens. — Unter den neuesten Romanen haben wir nicht viel Bedeutendes
aufzuzählen, wir erwähnen zunächst: Deutsche Liebe. Aus den Papieren
eines Fremdlings. Leipzig, Brockhaus, 1837. DaS Buch zeichnet sich durch
eine zarte Empfindung aus; die Gestaltungskraft ist nicht groß. Ferner sind zu
erwähnen: Trauter Herd und fremde Woge. Seenovellen von M. so-
litaire. Leipzig, H. Matthes. 1857. Koralla. Eine humoristische Stadt¬
geschichte von M. solitaire. Leipzig, H. Matthes. 1836. Dunkler Wald
und gelbe Düne. Zwei Novellen von M. solitaire. Leipzig, H. Mat-
thes. 1836. Die Novellen sind das Gegentheil der vorigen; sie enthalten
eine sehr muntere, lebhafte Anschauung, die Gestalten treten in scharfen Zügen
hervor, aber der Geschmack und das künstlerische Gefühl lassen viel zu wünschen
übrig. Unter den Gedichtsammlungen erregen das meiste Interesse die Gedichte
von R. Prutz, vierte verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig, I. I. Weber.
Sie sind ganz subjektiver Natur. Der Dichter gibt in ihnen gewissermaßen
den Abriß seines Lebens, wenigstens die Stimmungen, in denen sich dasselbe
reflectirt. Im Gegensatz zu den Jugendgedichten, in denen die Rhetorik über¬
wiegt, vernehmen wir in einzelnen Strophen der letzten Lieder einen Schrei
des Herzens, dessen Realität sich nicht bezweifeln läßt, und der daher in
gewissem Sinn einen poetischen Eindruck macht. Aber freilich ist dieser Eindruck
kein erfreulicher. Während in den politischen Liedern von 1840 die Hoffnung
und der Glaube überströmt, herrscht in den Gedichten von 1834 :c. eine
Hoffnungslosigkeit, deren niederschlagender Eindruck nur selten durch ein künst¬
liches Aufraffen unterbrochen wird. Dort spottet der gläubige jugendliche
Dichter der Weisheit des Alters, die sich dem Enthusiasmus entzieht und alle
Illusionen durch Vernunftgründe auflöst; hier ist er selber in diesem Stadium
des Alters, nur daß an Stelle der Lebensweisheit eine unheimliche Verstim¬
mung sich seiner bemächtigt hat; ja mitunter spricht der Dichter, der, wenn
wir nicht irren, vierzig Jahre zählt, im Ton eines Greises, der mit dem König
SaloMo ausruft: Alles ist eitel. Es liegt nicht in unserer Ausgabe, nach
individuellen Motiven zu suchen; wir sehen aber in dieser Entwicklung zugleich
das Bild einer ganzen Generation, die einflußreich genug gewesen ist, um eine
ernste Aufmerksamkeit zu verdienen.

Wenn man die lyrische Periode von 1840 bis 1843 anklagen will, so
muß man den Vorwurf nicht auf die Dichter beschränken. Heute ist freilich
alle Welt der politischen Poesie entfremdet, damals war aber alle Welt von
Herwegh berauscht, bis in die allerhöchsten Regionen hinauf. Die Zuversicht,
mit welcher die jugendlichen Dichter damals das Evangelium der Freiheit ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/11>, abgerufen am 01.09.2024.