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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Thatkraft, die sich aber zu enge Grenzen zog, sich zu gern in den Ring
einer Stadt einmauerte und dann ohne Sorge um das Land die andern
Städte als eigne, wie es eben frommte oder fiel, befreundete oder verfeindete
Staaten ansah. -- Im zwölften Jahrhundert gab dann das wissenschaftliche
Studium des römischen Rechts diesen Ueberlieferungen neue Kraft und einer
eignen Menschenclasse das Dasein, welche letztere aus den großen Städten
hervorging, wo in Gallien noch am meisten das Römerthum sich erhalten
hatte, und sich angelegen sein ließ, jene Ideen zu verbreiten. Aus diesem
Wirrwarr von Ueberlieferungen und Lehren, von schwankenden Vorstellungen
und leidenschaftlichen Ueberzeugungen leuchtete im sechzehnten Jahrhundert das
Wiedererwachen der historischen Studien auf. Nachdem sämmtliche Werke des
griechischen und römischen Alterthums durch den Druck ans Licht gekommen
waren, warfen sich die Geister auf die Handschriften des Mittelalters
und auf Erforschung der nationalen Alterthümer. Man zog aus dem
Dunkel der Bibliotheken und der Archive die fast vergessenen Alterthümer der
wahren Geschichte Frankteichs. Aus der Anwendung der modernen Wissen¬
schaft auf die überlieferten Meinungen entstanden dann die geschichtlichen
Systeme, deren Kampf bis auf unsere Tage gedauert hat. Diese Art Werke,
halb Geschichte, halb Parteischrift!, wo das Wissen sozusagen in den Dienst
der politischen Leidenschaft gegeben ist und der Geist der Forschung vom Par¬
teigeist beseelt wird, hatte in Frankreich einen ältern Ursprung, sing früher an,
kam zusammenhängender und glänzender zur Erscheinung, als in irgend einem
andern Land Europas. Der Reihe nach von den verschiedenen Strömungen
der öffentlichen Meinung bewegt, dienten die alten Ueberlieferungen der unter
sich verfeindeten Volksclassen neuen, mehr oder weniger wissenschaftlichen, mehr
oder weniger scharfsinnigen Lehren zur Grundlage, die aber alle das unter
sich gemein hatten, daß sie die Tiefen der Vergangenheit nur durchwühlten,
um, wie es eben gehen wollte, ein Ergebniß an den Tag zu fördern, das
den volkstümlichen oder aristokratischen Ideen, Wünschen, Anmaßungen des
Augenblicks zusagte.

Dies Gewirr politischer Interessen und wissenschaftlicher Doctrinen in ei¬
nen innern Zusammenhang gebracht zu haben, in welchem jedes einzelne
Moment mit vollkommener Klarheit hervortritt, so daß neuere Forschungen zu
dieser Kette kein wesentliches Glied mehr hinzufügen können, ist das unsterb¬
liche Verdienst ThierryS. Die Kritik der historischen Systeme ist ein Meister¬
stück; anders freilich steht es mit der Frage, ob das, was er an die Stelle
derselben setzt, in allen Punkten haltbar sein wird. Um diese positive Seite
seiner Studien zu prüfen, müssen wir die neueste seiner Schriften ins Auge
fassen.

wurde Thierry von Guizot, der damals Minister des öffentlichen


Thatkraft, die sich aber zu enge Grenzen zog, sich zu gern in den Ring
einer Stadt einmauerte und dann ohne Sorge um das Land die andern
Städte als eigne, wie es eben frommte oder fiel, befreundete oder verfeindete
Staaten ansah. — Im zwölften Jahrhundert gab dann das wissenschaftliche
Studium des römischen Rechts diesen Ueberlieferungen neue Kraft und einer
eignen Menschenclasse das Dasein, welche letztere aus den großen Städten
hervorging, wo in Gallien noch am meisten das Römerthum sich erhalten
hatte, und sich angelegen sein ließ, jene Ideen zu verbreiten. Aus diesem
Wirrwarr von Ueberlieferungen und Lehren, von schwankenden Vorstellungen
und leidenschaftlichen Ueberzeugungen leuchtete im sechzehnten Jahrhundert das
Wiedererwachen der historischen Studien auf. Nachdem sämmtliche Werke des
griechischen und römischen Alterthums durch den Druck ans Licht gekommen
waren, warfen sich die Geister auf die Handschriften des Mittelalters
und auf Erforschung der nationalen Alterthümer. Man zog aus dem
Dunkel der Bibliotheken und der Archive die fast vergessenen Alterthümer der
wahren Geschichte Frankteichs. Aus der Anwendung der modernen Wissen¬
schaft auf die überlieferten Meinungen entstanden dann die geschichtlichen
Systeme, deren Kampf bis auf unsere Tage gedauert hat. Diese Art Werke,
halb Geschichte, halb Parteischrift!, wo das Wissen sozusagen in den Dienst
der politischen Leidenschaft gegeben ist und der Geist der Forschung vom Par¬
teigeist beseelt wird, hatte in Frankreich einen ältern Ursprung, sing früher an,
kam zusammenhängender und glänzender zur Erscheinung, als in irgend einem
andern Land Europas. Der Reihe nach von den verschiedenen Strömungen
der öffentlichen Meinung bewegt, dienten die alten Ueberlieferungen der unter
sich verfeindeten Volksclassen neuen, mehr oder weniger wissenschaftlichen, mehr
oder weniger scharfsinnigen Lehren zur Grundlage, die aber alle das unter
sich gemein hatten, daß sie die Tiefen der Vergangenheit nur durchwühlten,
um, wie es eben gehen wollte, ein Ergebniß an den Tag zu fördern, das
den volkstümlichen oder aristokratischen Ideen, Wünschen, Anmaßungen des
Augenblicks zusagte.

Dies Gewirr politischer Interessen und wissenschaftlicher Doctrinen in ei¬
nen innern Zusammenhang gebracht zu haben, in welchem jedes einzelne
Moment mit vollkommener Klarheit hervortritt, so daß neuere Forschungen zu
dieser Kette kein wesentliches Glied mehr hinzufügen können, ist das unsterb¬
liche Verdienst ThierryS. Die Kritik der historischen Systeme ist ein Meister¬
stück; anders freilich steht es mit der Frage, ob das, was er an die Stelle
derselben setzt, in allen Punkten haltbar sein wird. Um diese positive Seite
seiner Studien zu prüfen, müssen wir die neueste seiner Schriften ins Auge
fassen.

wurde Thierry von Guizot, der damals Minister des öffentlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/98>, abgerufen am 23.07.2024.