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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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gewesen waren, aus den politischen und socialen Boraussetzungen der verschie¬
denen Zeiralter herzuleiten.

Wenn man sich in das zwölfte Jahrhundert versetzt und die Literatur
dieses Zeitraums befragt, steht man, daß jede Ueberlieferung von der Ver¬
schiedenheit der nationalen Elemente, von dem anfänglichen Unterschied zwischen
Eroberern und Unterworfenen, Franken und Galloromanen damals verschwun¬
den war. Die nähern Umstände und der-Charakter der Eroberung, die Ver¬
heerungen, die Unterjochung, die lange Feindseligkeit der Racen waren erloschene
Erinnerungen. Es blieb keine Spur davon weder in den prosaischen oder ge¬
reimten Geschichtsbüchern, noch in den romantischen Erzählungen, noch in den
Sagen des Herdes. Jede Classe der Bevölkerung, ganz von den andern
verschieden, hatte ihre politischen Ueberlieferungen und sozusagen ihre eigne
Lehre, die freilich verworren, unvollständig, ja großentheils irrthümlich war,
aber lebendig und lebensfähig kraft der Leidenschaften, deren Züge sie trug,
und kraft der Eifersucht und des Wechselhässes, die mit ihr zusammenhingen.
Der Adel behielt die verschwommene und gestaltlose Borstellung von einer Er¬
oberung des Landes, die einmal von den Königen und seinen Borfahren zu
aller Gewinn unternommen worden, und von einer großen Theilung der durch
das Recht des Schwertes erworbenen Ländereien. Diese Erinnerung an ein
wirkliches Ereigniß war durch die falsche Farbe und das falsche Datum, die
man ihm gab, zum Märchen geworden. Das war nicht mehr der Einfall
eines barbarischen Volkes in ein civilisirtes Land, sondern eine mit allen Kenn¬
zeichen der Größe und des guten Rechtes, wie sie das Mittelalter begriff, aus¬
gestattete Eroberung, nicht eine Unterjochung von Christen durch eine heidnische
Nation, sondern von Ungläubigen durch eine gläubige Heerschar, das Ergeb¬
niß und die Krönung der Siege Karl Martels, Pipins und Karls des Gro¬
ßen über die Sarazenen und andere dem Glauben feindliche Böller. Außer
dieser Lehre vererbte sich unter dem Adel noch ein anderer Satz: das König¬
reich sei ursprünglich ein Wahlreich gewesen und den Pairs und Großen des
Landes habe bei jeder neuen Nachfolge das Recht der Einwilligung zugestan¬
den. -- Die deutlichste und am wenigsten getrübte der geschichtlichen Ueberlie¬
ferungen gehörte dem Bürgerstand an und erhielt sich vereinzelt in den großen
Städten, welche einst Hauptorte von Provinzen oder Städte des kaiserlichen
Galliens gewesen. Die Einwohner derselben erinnerten sich im zwölften Jahr¬
hundert des römischen Ursprungs ihrer Municipalverfassung. Dieser feste
Glaube an das undeutliche Alter eines StadtrechtS, das bürgerliche und po¬
litische Freiheit gewährte, war der größte moralische Halt, welchen das Bür-
gevthum in seinem Kampf gegen die feudale Ueberfluthung und den Stolz des
Adels hatte. Ueberall, wo dieser Glaube eine Stätte sand, brachte er ein
lebhaftes Gefühl von örtlichen Patriotismus hervor, eine Gesinnung voll


Grenzboten. I. -I8ö7. 12

gewesen waren, aus den politischen und socialen Boraussetzungen der verschie¬
denen Zeiralter herzuleiten.

Wenn man sich in das zwölfte Jahrhundert versetzt und die Literatur
dieses Zeitraums befragt, steht man, daß jede Ueberlieferung von der Ver¬
schiedenheit der nationalen Elemente, von dem anfänglichen Unterschied zwischen
Eroberern und Unterworfenen, Franken und Galloromanen damals verschwun¬
den war. Die nähern Umstände und der-Charakter der Eroberung, die Ver¬
heerungen, die Unterjochung, die lange Feindseligkeit der Racen waren erloschene
Erinnerungen. Es blieb keine Spur davon weder in den prosaischen oder ge¬
reimten Geschichtsbüchern, noch in den romantischen Erzählungen, noch in den
Sagen des Herdes. Jede Classe der Bevölkerung, ganz von den andern
verschieden, hatte ihre politischen Ueberlieferungen und sozusagen ihre eigne
Lehre, die freilich verworren, unvollständig, ja großentheils irrthümlich war,
aber lebendig und lebensfähig kraft der Leidenschaften, deren Züge sie trug,
und kraft der Eifersucht und des Wechselhässes, die mit ihr zusammenhingen.
Der Adel behielt die verschwommene und gestaltlose Borstellung von einer Er¬
oberung des Landes, die einmal von den Königen und seinen Borfahren zu
aller Gewinn unternommen worden, und von einer großen Theilung der durch
das Recht des Schwertes erworbenen Ländereien. Diese Erinnerung an ein
wirkliches Ereigniß war durch die falsche Farbe und das falsche Datum, die
man ihm gab, zum Märchen geworden. Das war nicht mehr der Einfall
eines barbarischen Volkes in ein civilisirtes Land, sondern eine mit allen Kenn¬
zeichen der Größe und des guten Rechtes, wie sie das Mittelalter begriff, aus¬
gestattete Eroberung, nicht eine Unterjochung von Christen durch eine heidnische
Nation, sondern von Ungläubigen durch eine gläubige Heerschar, das Ergeb¬
niß und die Krönung der Siege Karl Martels, Pipins und Karls des Gro¬
ßen über die Sarazenen und andere dem Glauben feindliche Böller. Außer
dieser Lehre vererbte sich unter dem Adel noch ein anderer Satz: das König¬
reich sei ursprünglich ein Wahlreich gewesen und den Pairs und Großen des
Landes habe bei jeder neuen Nachfolge das Recht der Einwilligung zugestan¬
den. — Die deutlichste und am wenigsten getrübte der geschichtlichen Ueberlie¬
ferungen gehörte dem Bürgerstand an und erhielt sich vereinzelt in den großen
Städten, welche einst Hauptorte von Provinzen oder Städte des kaiserlichen
Galliens gewesen. Die Einwohner derselben erinnerten sich im zwölften Jahr¬
hundert des römischen Ursprungs ihrer Municipalverfassung. Dieser feste
Glaube an das undeutliche Alter eines StadtrechtS, das bürgerliche und po¬
litische Freiheit gewährte, war der größte moralische Halt, welchen das Bür-
gevthum in seinem Kampf gegen die feudale Ueberfluthung und den Stolz des
Adels hatte. Ueberall, wo dieser Glaube eine Stätte sand, brachte er ein
lebhaftes Gefühl von örtlichen Patriotismus hervor, eine Gesinnung voll


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/97>, abgerufen am 22.12.2024.