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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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ber die gewöhnliche Heerstraße verlassen und sich in die Nebenpfade vertiefen,
auf denen sich die wunderlichsten Charakterbilder vorfinden, die in wilden
Contrasten den innern Kampf in der Bildung des Zeitalters versinnlichen.
"Die Lebensweise der fränkischen Könige, das Innere des königlichen Haus¬
haltes, das stürmische Leben der Herrn und der Bischöfe, die unruhige Ver¬
schlagenheit der Galloromanen und die zügellose Roheit der Barbaren, der
Mangel an jeder Ordnung oder Verwaltung oder an jedem moralischen Band
zwischen den Bewohnern der gallischen Provinzen in den Grenzen desselben
Königreichs, das Erwachen der uralten Eifersucht und des ererbten Hasses
von Bezirk gegen Bezirk, von Stadt gegen Stadt, überall eme Rückkehr so¬
zusagen zum Naturzustand und ein Auflehnen des Einzelwillens gegen Ge¬
setz und Regel, gegen jedwede Ordnung, politische, bürgerliche, wie religiöse,
Her Geist des Aufruhrs und der Gewaltthat, wirksam selbst in Frauenklöstern:
dies sind die verschiedenen Bilder, die ich nach den gleichzeitigen Urkunden zu
entwerfen versuchte und deren Vereinigung eine Einschau in das sechste Jahr¬
hundert Galliens bietet..." In dem Grundsatz, die Sprache der Quellen in
ihrem schärfsten Ausdruck beizubehalten, bleibt er aus dem Wege seiner frühern
Arbeit. Aber die Methode hat sich doch einigermaßen geändert. Indem er
sich den Erzählungen seiner Quelle anschließt, charakterisiert er hauptsächlich
den Erzähler. Er versetzt sich in seine Seele und analysirt die Empfindungen,
welche so wilde, entsetzliche Naturen, wie Fredegunde und die übrigen Fürstin¬
nen der Barbaren, bei einem wohlmeinenden Priester erregen mußten, in dem
doch immer ein Bodensatz der altrömischen Cultur übriggeblieben war. Wie
man mit eindringendem Verstand die Quellen lesen und sie mit nachschaffender
Phantasie den Zeitgenossen verherrlichen kann, daS wird uns in keinem neuern
Geschichtswerk so klar, wie in diesen Berichten aus den Zeiten der Merovinger.
Sie lehren uns auch, wie man den richtigen sittlichen Eindruck hervorbringt,
ohne zu moralisiren, denn aus dieses Zeitalter, in dem die Greuel der Bar¬
barei nur schwach mit einem scheinheiligen Christenthum überfirnißt wurden,
den Maßstab ber gewöhnlichen Moral anzuwenden, würde ein thörichtes Be-
, girren sein ; und doch versteht Thierry ganz in der Art eines dramatischen
Dichters die Seele seines Lesers durch ästhetische Vermittlung zu ergreisen und
zu kräftigen.

Als Einleitung zu seinen Erzählungen aus den Zeiten der Merovinger
veröffentlichte Thierry in demselben Jahre -I8i0 die Betrachtungen über
die Geschichte Frankreichs; ein Werk, welches zur Ergänzung der Briefe
über die französische Geschichte bestimmt war. Dies Mal galt es, die Forschungen
über den Ursprung der französischen Geschichte ins Auge zu fassen und die
Theorien, welche darüber in der Menge wie unter den Gelehrten herrschend


ber die gewöhnliche Heerstraße verlassen und sich in die Nebenpfade vertiefen,
auf denen sich die wunderlichsten Charakterbilder vorfinden, die in wilden
Contrasten den innern Kampf in der Bildung des Zeitalters versinnlichen.
„Die Lebensweise der fränkischen Könige, das Innere des königlichen Haus¬
haltes, das stürmische Leben der Herrn und der Bischöfe, die unruhige Ver¬
schlagenheit der Galloromanen und die zügellose Roheit der Barbaren, der
Mangel an jeder Ordnung oder Verwaltung oder an jedem moralischen Band
zwischen den Bewohnern der gallischen Provinzen in den Grenzen desselben
Königreichs, das Erwachen der uralten Eifersucht und des ererbten Hasses
von Bezirk gegen Bezirk, von Stadt gegen Stadt, überall eme Rückkehr so¬
zusagen zum Naturzustand und ein Auflehnen des Einzelwillens gegen Ge¬
setz und Regel, gegen jedwede Ordnung, politische, bürgerliche, wie religiöse,
Her Geist des Aufruhrs und der Gewaltthat, wirksam selbst in Frauenklöstern:
dies sind die verschiedenen Bilder, die ich nach den gleichzeitigen Urkunden zu
entwerfen versuchte und deren Vereinigung eine Einschau in das sechste Jahr¬
hundert Galliens bietet..." In dem Grundsatz, die Sprache der Quellen in
ihrem schärfsten Ausdruck beizubehalten, bleibt er aus dem Wege seiner frühern
Arbeit. Aber die Methode hat sich doch einigermaßen geändert. Indem er
sich den Erzählungen seiner Quelle anschließt, charakterisiert er hauptsächlich
den Erzähler. Er versetzt sich in seine Seele und analysirt die Empfindungen,
welche so wilde, entsetzliche Naturen, wie Fredegunde und die übrigen Fürstin¬
nen der Barbaren, bei einem wohlmeinenden Priester erregen mußten, in dem
doch immer ein Bodensatz der altrömischen Cultur übriggeblieben war. Wie
man mit eindringendem Verstand die Quellen lesen und sie mit nachschaffender
Phantasie den Zeitgenossen verherrlichen kann, daS wird uns in keinem neuern
Geschichtswerk so klar, wie in diesen Berichten aus den Zeiten der Merovinger.
Sie lehren uns auch, wie man den richtigen sittlichen Eindruck hervorbringt,
ohne zu moralisiren, denn aus dieses Zeitalter, in dem die Greuel der Bar¬
barei nur schwach mit einem scheinheiligen Christenthum überfirnißt wurden,
den Maßstab ber gewöhnlichen Moral anzuwenden, würde ein thörichtes Be-
, girren sein ; und doch versteht Thierry ganz in der Art eines dramatischen
Dichters die Seele seines Lesers durch ästhetische Vermittlung zu ergreisen und
zu kräftigen.

Als Einleitung zu seinen Erzählungen aus den Zeiten der Merovinger
veröffentlichte Thierry in demselben Jahre -I8i0 die Betrachtungen über
die Geschichte Frankreichs; ein Werk, welches zur Ergänzung der Briefe
über die französische Geschichte bestimmt war. Dies Mal galt es, die Forschungen
über den Ursprung der französischen Geschichte ins Auge zu fassen und die
Theorien, welche darüber in der Menge wie unter den Gelehrten herrschend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/96>, abgerufen am 23.07.2024.