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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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rührenden Eindruck: "Fünfzehn Monate hindurch habe ich dieser Arbeit alle Stun¬
den gewidmet, die mir der traurige Zustand meiner Gesundheit verstattete. Ich wage
kaum zu hoffen, daß mir noch verstattet sein wird, eine neue Aufgabe zu un¬
ternehmen, aber so lange mir noch ein Hauch des Lebens bleibt, werde ich
mich von diesen Studien nicht trennen. Sie waren in den Jahren der Kraft
und der Jugend meine. Leidenschaft, sie trösten mich jetzt in den Leiden eines
zu früh eingetretenen Alters."

Infolge seiner anhaltenden Studien hatte Thierry fast gänzlich die Seh¬
kraft verloren und verfiel außerdem in eine Nervenkrankheit. In den Jahren
1831--183Ü hielt er sich bald in den Bädern von Lureuil, bald in Vesoul
bei seinem zwei Jahre jüngern Bruder Am^toe auf, den die Juliregierung
zum Präfecten ernannt hatte. Mit Hilfe dieses Bruders, der sich gleichfalls
um die Geschichte sehr bedeutende Verdienste erworben hat (seine Geschichte
Galliens unter der römischen Herrschaft, 1826, und seine Geschichte Attilas
und seiner Nachfolger, 1832, verdienen einen ehrenvollen Platz in der wissen¬
schaftlichen Literatur), und seiner Gemahlin, die er 1831 heirathete, als er
schon erblindet war, (als Schriftstellerin durch die Sittenschilderungen aus dem
4 8,- und 19. Jahrhundert, 1836, vortheilhaft bekannt), veröffentlichte er 1835
die Sammlung seiner frühern Studien, die sich zum großen Theil auf die
Entwicklung der französischen Verfassung beziehen. Aber noch drei seiner reif¬
sten Werke entsprangen aus diesen Jahren des Leidens. Daß er die .Kraft
gewann, in seiner völligen Hilflosigkeit nicht blos so umfassende Forschungen
anzustellen, sondern sie auch mit der alten Jugendfrische, mit ungeschwächter
Plastischer Kraft auszuführen, ist eins der schönsten Zeugnisse in der Geschichte
des menschlichen Geistes.

Zunächst veröffentlichte er in der Revue des deur mondes von 1833--1837:
Neue Briefe über die Geschichte Frankreichs, die er 1840 unter dem Titel:
Erzählungen aus den merovingischen Zeiten, herausgab. Die Form der Epi¬
sode war nach reifer Ueberlegung gewählt, theils weil in jenen Ereignissen von
einem verständigen zusammenhängenden Plan nicht die Rede war, theils wegen
des Charakters seiner Hauptquelle, des Gregor von Tours. "Alle die Gegen¬
satze, welche die Eroberung Galliens hervorgerufen und auf denselben Boden
gestellt hatte, die Racen, die Elassen, die verschiedenen Verhältnisse nehmen
wild durcheinander in seinen mitunter lustigen, meistens traurigen, immer
wahren und lebensvollen Erzählungen Gestalt an. Er mahnt dich an eine
unordentliche Sammlung von Gemälden und Figuren in erhabner Arbeit. Da
triffst du alte Volkggesänge, verstümmelt, ohne.Folge, zerstreut, aber fähig,
gesammelt, geordnet zu werden, ein Gedicht zu bilden, wenn dies Wort, mit
dem wir heutzutage zu freigebig sind, sich auf die Geschichte anwenden läßt."
Um das wahre Interesse dieser Quelle beizubehalten, mußte der Geschichtschrei-


rührenden Eindruck: „Fünfzehn Monate hindurch habe ich dieser Arbeit alle Stun¬
den gewidmet, die mir der traurige Zustand meiner Gesundheit verstattete. Ich wage
kaum zu hoffen, daß mir noch verstattet sein wird, eine neue Aufgabe zu un¬
ternehmen, aber so lange mir noch ein Hauch des Lebens bleibt, werde ich
mich von diesen Studien nicht trennen. Sie waren in den Jahren der Kraft
und der Jugend meine. Leidenschaft, sie trösten mich jetzt in den Leiden eines
zu früh eingetretenen Alters."

Infolge seiner anhaltenden Studien hatte Thierry fast gänzlich die Seh¬
kraft verloren und verfiel außerdem in eine Nervenkrankheit. In den Jahren
1831—183Ü hielt er sich bald in den Bädern von Lureuil, bald in Vesoul
bei seinem zwei Jahre jüngern Bruder Am^toe auf, den die Juliregierung
zum Präfecten ernannt hatte. Mit Hilfe dieses Bruders, der sich gleichfalls
um die Geschichte sehr bedeutende Verdienste erworben hat (seine Geschichte
Galliens unter der römischen Herrschaft, 1826, und seine Geschichte Attilas
und seiner Nachfolger, 1832, verdienen einen ehrenvollen Platz in der wissen¬
schaftlichen Literatur), und seiner Gemahlin, die er 1831 heirathete, als er
schon erblindet war, (als Schriftstellerin durch die Sittenschilderungen aus dem
4 8,- und 19. Jahrhundert, 1836, vortheilhaft bekannt), veröffentlichte er 1835
die Sammlung seiner frühern Studien, die sich zum großen Theil auf die
Entwicklung der französischen Verfassung beziehen. Aber noch drei seiner reif¬
sten Werke entsprangen aus diesen Jahren des Leidens. Daß er die .Kraft
gewann, in seiner völligen Hilflosigkeit nicht blos so umfassende Forschungen
anzustellen, sondern sie auch mit der alten Jugendfrische, mit ungeschwächter
Plastischer Kraft auszuführen, ist eins der schönsten Zeugnisse in der Geschichte
des menschlichen Geistes.

Zunächst veröffentlichte er in der Revue des deur mondes von 1833—1837:
Neue Briefe über die Geschichte Frankreichs, die er 1840 unter dem Titel:
Erzählungen aus den merovingischen Zeiten, herausgab. Die Form der Epi¬
sode war nach reifer Ueberlegung gewählt, theils weil in jenen Ereignissen von
einem verständigen zusammenhängenden Plan nicht die Rede war, theils wegen
des Charakters seiner Hauptquelle, des Gregor von Tours. „Alle die Gegen¬
satze, welche die Eroberung Galliens hervorgerufen und auf denselben Boden
gestellt hatte, die Racen, die Elassen, die verschiedenen Verhältnisse nehmen
wild durcheinander in seinen mitunter lustigen, meistens traurigen, immer
wahren und lebensvollen Erzählungen Gestalt an. Er mahnt dich an eine
unordentliche Sammlung von Gemälden und Figuren in erhabner Arbeit. Da
triffst du alte Volkggesänge, verstümmelt, ohne.Folge, zerstreut, aber fähig,
gesammelt, geordnet zu werden, ein Gedicht zu bilden, wenn dies Wort, mit
dem wir heutzutage zu freigebig sind, sich auf die Geschichte anwenden läßt."
Um das wahre Interesse dieser Quelle beizubehalten, mußte der Geschichtschrei-


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[0095] rührenden Eindruck: „Fünfzehn Monate hindurch habe ich dieser Arbeit alle Stun¬ den gewidmet, die mir der traurige Zustand meiner Gesundheit verstattete. Ich wage kaum zu hoffen, daß mir noch verstattet sein wird, eine neue Aufgabe zu un¬ ternehmen, aber so lange mir noch ein Hauch des Lebens bleibt, werde ich mich von diesen Studien nicht trennen. Sie waren in den Jahren der Kraft und der Jugend meine. Leidenschaft, sie trösten mich jetzt in den Leiden eines zu früh eingetretenen Alters." Infolge seiner anhaltenden Studien hatte Thierry fast gänzlich die Seh¬ kraft verloren und verfiel außerdem in eine Nervenkrankheit. In den Jahren 1831—183Ü hielt er sich bald in den Bädern von Lureuil, bald in Vesoul bei seinem zwei Jahre jüngern Bruder Am^toe auf, den die Juliregierung zum Präfecten ernannt hatte. Mit Hilfe dieses Bruders, der sich gleichfalls um die Geschichte sehr bedeutende Verdienste erworben hat (seine Geschichte Galliens unter der römischen Herrschaft, 1826, und seine Geschichte Attilas und seiner Nachfolger, 1832, verdienen einen ehrenvollen Platz in der wissen¬ schaftlichen Literatur), und seiner Gemahlin, die er 1831 heirathete, als er schon erblindet war, (als Schriftstellerin durch die Sittenschilderungen aus dem 4 8,- und 19. Jahrhundert, 1836, vortheilhaft bekannt), veröffentlichte er 1835 die Sammlung seiner frühern Studien, die sich zum großen Theil auf die Entwicklung der französischen Verfassung beziehen. Aber noch drei seiner reif¬ sten Werke entsprangen aus diesen Jahren des Leidens. Daß er die .Kraft gewann, in seiner völligen Hilflosigkeit nicht blos so umfassende Forschungen anzustellen, sondern sie auch mit der alten Jugendfrische, mit ungeschwächter Plastischer Kraft auszuführen, ist eins der schönsten Zeugnisse in der Geschichte des menschlichen Geistes. Zunächst veröffentlichte er in der Revue des deur mondes von 1833—1837: Neue Briefe über die Geschichte Frankreichs, die er 1840 unter dem Titel: Erzählungen aus den merovingischen Zeiten, herausgab. Die Form der Epi¬ sode war nach reifer Ueberlegung gewählt, theils weil in jenen Ereignissen von einem verständigen zusammenhängenden Plan nicht die Rede war, theils wegen des Charakters seiner Hauptquelle, des Gregor von Tours. „Alle die Gegen¬ satze, welche die Eroberung Galliens hervorgerufen und auf denselben Boden gestellt hatte, die Racen, die Elassen, die verschiedenen Verhältnisse nehmen wild durcheinander in seinen mitunter lustigen, meistens traurigen, immer wahren und lebensvollen Erzählungen Gestalt an. Er mahnt dich an eine unordentliche Sammlung von Gemälden und Figuren in erhabner Arbeit. Da triffst du alte Volkggesänge, verstümmelt, ohne.Folge, zerstreut, aber fähig, gesammelt, geordnet zu werden, ein Gedicht zu bilden, wenn dies Wort, mit dem wir heutzutage zu freigebig sind, sich auf die Geschichte anwenden läßt." Um das wahre Interesse dieser Quelle beizubehalten, mußte der Geschichtschrei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/95>, abgerufen am 23.07.2024.