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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Was den sittlichen Inhalt betrifft, so sucht er sich alles Urtheils zu ent¬
halten; doch sein edler Jnstinct treibt ihn auf die Seite des besiegten Volks,
und wenn er eine gelinde Ironie, wo es sich um den Aberglauben der Sachsen
handelt und um ihre Neigung, aus ihren volkstümlichen Helden religiöse
Märtyrer zu machen , nicht ganz unterdrücken kann, so hebt er doch mit be¬
sonderer Vorliebe ihre guten Seiten hervor; und so ist namentlich das Bild
seines Harald verfehlt, weil es sast ganz ohne Schatten gemalt ist. Desto
glänzender springen die wilden Züge der Normannen aus der Leinwand hervor,
namentlich das Porträt jenes Eroberers, in dessen harten, aber bedeutenden
Zügen sich die Grausamkeit eines Chlodwig mit der staatsmcinnischen Schlau¬
heit eines Oranien paart. Das Bild ist des größten Dichters würdig und
muß jeden Leser fesseln, auch wenn er für die Zeit nicht das geringste Inter¬
esse mitbringt.

Die Einwanderung der Normannen war nicht mit der Eroberung abge¬
schlossen, sie war, wie bei der Kolonisation Preußens, eine successive, eine
ununterbrochene Flut, die sich jährlich erneuert. Wenn die von den Norman¬
nen abstammenden, aber eingebornen englischen Barone, ihrem König die
Magna charta abtrotzten, war diese hauptsächlich gegen die neuen Eindring¬
linge gerichtet, die aus Frankreich herüberkamen und den alten Besitzern ihren
legitimen Erwerb verkümmerten. Ihrerseits wanderten die unterdrückten Sach¬
sen und Dänen theils als Wäringer in die Fremde, theils in abgelegene Pro¬
vinzen des Vaterlandes aus, wo sie zuerst als Freibeuter den Eroberern im
Kleinen zu schaden suchten, dann durch die Nothwendigkeit der Dinge in sitt¬
liche Verhältnisse zu ihnen traten, die zuletzt einen gemüthlichen Anstrich an¬
nahmen. Eine Nation entstand aus dieser Mischung von Stämmen durch den
Kampf gegen die französischen Könige und die in Frankreich zurückgebliebenen ^
Stammgenossen. In diesem Gegensatz gaben die Eroberer zuletzt ihre Sprache
auf, und fügten sich der Sprache der Unterworfenen, die nun ihre Mitbürger
waren. Der römische Hof ist nicht, wie neue Sophisten angeben, zu Gunsten
der Freiheit gegen die Tyrannen aufgetreten, sondern er hat sich überall den
letztern angeschlossen, um seinen Einfluß zu vergrößern, schon im 12. Jahr¬
hundert mit einem Macchiavellismus, der selbst die religiösen Interessen dem
politischen Einfluß aufopferte. Wenn sich Thierry bemüht, den Streit zwischen
.König Heinrich und Thomas Wecket als einen Kampf zwischen den beiden
Racen aufzufassen, so kann der Leser diese Auffassung, die aus der Vorliebe
für die Sachsen hervorgeht, durch den eignen Bericht des Schriftstellers wider¬
legen.

Wie sehr Thierry daran gelegen war, die Früchte seiner Studien künst¬
lerisch abzurunden, zeigt die dritte Ausgabe des Werks, die zu Anfang des
Jahres 1830 erschien und ihm die Akademie öffnete. Die Vorrede macht einen


Was den sittlichen Inhalt betrifft, so sucht er sich alles Urtheils zu ent¬
halten; doch sein edler Jnstinct treibt ihn auf die Seite des besiegten Volks,
und wenn er eine gelinde Ironie, wo es sich um den Aberglauben der Sachsen
handelt und um ihre Neigung, aus ihren volkstümlichen Helden religiöse
Märtyrer zu machen , nicht ganz unterdrücken kann, so hebt er doch mit be¬
sonderer Vorliebe ihre guten Seiten hervor; und so ist namentlich das Bild
seines Harald verfehlt, weil es sast ganz ohne Schatten gemalt ist. Desto
glänzender springen die wilden Züge der Normannen aus der Leinwand hervor,
namentlich das Porträt jenes Eroberers, in dessen harten, aber bedeutenden
Zügen sich die Grausamkeit eines Chlodwig mit der staatsmcinnischen Schlau¬
heit eines Oranien paart. Das Bild ist des größten Dichters würdig und
muß jeden Leser fesseln, auch wenn er für die Zeit nicht das geringste Inter¬
esse mitbringt.

Die Einwanderung der Normannen war nicht mit der Eroberung abge¬
schlossen, sie war, wie bei der Kolonisation Preußens, eine successive, eine
ununterbrochene Flut, die sich jährlich erneuert. Wenn die von den Norman¬
nen abstammenden, aber eingebornen englischen Barone, ihrem König die
Magna charta abtrotzten, war diese hauptsächlich gegen die neuen Eindring¬
linge gerichtet, die aus Frankreich herüberkamen und den alten Besitzern ihren
legitimen Erwerb verkümmerten. Ihrerseits wanderten die unterdrückten Sach¬
sen und Dänen theils als Wäringer in die Fremde, theils in abgelegene Pro¬
vinzen des Vaterlandes aus, wo sie zuerst als Freibeuter den Eroberern im
Kleinen zu schaden suchten, dann durch die Nothwendigkeit der Dinge in sitt¬
liche Verhältnisse zu ihnen traten, die zuletzt einen gemüthlichen Anstrich an¬
nahmen. Eine Nation entstand aus dieser Mischung von Stämmen durch den
Kampf gegen die französischen Könige und die in Frankreich zurückgebliebenen ^
Stammgenossen. In diesem Gegensatz gaben die Eroberer zuletzt ihre Sprache
auf, und fügten sich der Sprache der Unterworfenen, die nun ihre Mitbürger
waren. Der römische Hof ist nicht, wie neue Sophisten angeben, zu Gunsten
der Freiheit gegen die Tyrannen aufgetreten, sondern er hat sich überall den
letztern angeschlossen, um seinen Einfluß zu vergrößern, schon im 12. Jahr¬
hundert mit einem Macchiavellismus, der selbst die religiösen Interessen dem
politischen Einfluß aufopferte. Wenn sich Thierry bemüht, den Streit zwischen
.König Heinrich und Thomas Wecket als einen Kampf zwischen den beiden
Racen aufzufassen, so kann der Leser diese Auffassung, die aus der Vorliebe
für die Sachsen hervorgeht, durch den eignen Bericht des Schriftstellers wider¬
legen.

Wie sehr Thierry daran gelegen war, die Früchte seiner Studien künst¬
lerisch abzurunden, zeigt die dritte Ausgabe des Werks, die zu Anfang des
Jahres 1830 erschien und ihm die Akademie öffnete. Die Vorrede macht einen


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[0094] Was den sittlichen Inhalt betrifft, so sucht er sich alles Urtheils zu ent¬ halten; doch sein edler Jnstinct treibt ihn auf die Seite des besiegten Volks, und wenn er eine gelinde Ironie, wo es sich um den Aberglauben der Sachsen handelt und um ihre Neigung, aus ihren volkstümlichen Helden religiöse Märtyrer zu machen , nicht ganz unterdrücken kann, so hebt er doch mit be¬ sonderer Vorliebe ihre guten Seiten hervor; und so ist namentlich das Bild seines Harald verfehlt, weil es sast ganz ohne Schatten gemalt ist. Desto glänzender springen die wilden Züge der Normannen aus der Leinwand hervor, namentlich das Porträt jenes Eroberers, in dessen harten, aber bedeutenden Zügen sich die Grausamkeit eines Chlodwig mit der staatsmcinnischen Schlau¬ heit eines Oranien paart. Das Bild ist des größten Dichters würdig und muß jeden Leser fesseln, auch wenn er für die Zeit nicht das geringste Inter¬ esse mitbringt. Die Einwanderung der Normannen war nicht mit der Eroberung abge¬ schlossen, sie war, wie bei der Kolonisation Preußens, eine successive, eine ununterbrochene Flut, die sich jährlich erneuert. Wenn die von den Norman¬ nen abstammenden, aber eingebornen englischen Barone, ihrem König die Magna charta abtrotzten, war diese hauptsächlich gegen die neuen Eindring¬ linge gerichtet, die aus Frankreich herüberkamen und den alten Besitzern ihren legitimen Erwerb verkümmerten. Ihrerseits wanderten die unterdrückten Sach¬ sen und Dänen theils als Wäringer in die Fremde, theils in abgelegene Pro¬ vinzen des Vaterlandes aus, wo sie zuerst als Freibeuter den Eroberern im Kleinen zu schaden suchten, dann durch die Nothwendigkeit der Dinge in sitt¬ liche Verhältnisse zu ihnen traten, die zuletzt einen gemüthlichen Anstrich an¬ nahmen. Eine Nation entstand aus dieser Mischung von Stämmen durch den Kampf gegen die französischen Könige und die in Frankreich zurückgebliebenen ^ Stammgenossen. In diesem Gegensatz gaben die Eroberer zuletzt ihre Sprache auf, und fügten sich der Sprache der Unterworfenen, die nun ihre Mitbürger waren. Der römische Hof ist nicht, wie neue Sophisten angeben, zu Gunsten der Freiheit gegen die Tyrannen aufgetreten, sondern er hat sich überall den letztern angeschlossen, um seinen Einfluß zu vergrößern, schon im 12. Jahr¬ hundert mit einem Macchiavellismus, der selbst die religiösen Interessen dem politischen Einfluß aufopferte. Wenn sich Thierry bemüht, den Streit zwischen .König Heinrich und Thomas Wecket als einen Kampf zwischen den beiden Racen aufzufassen, so kann der Leser diese Auffassung, die aus der Vorliebe für die Sachsen hervorgeht, durch den eignen Bericht des Schriftstellers wider¬ legen. Wie sehr Thierry daran gelegen war, die Früchte seiner Studien künst¬ lerisch abzurunden, zeigt die dritte Ausgabe des Werks, die zu Anfang des Jahres 1830 erschien und ihm die Akademie öffnete. Die Vorrede macht einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/94>, abgerufen am 25.08.2024.