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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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bekannt. Bei uns aber gehen diese Studien in gelehrte Sammlungen auf;
in einem darstellenden Werk hat man sie noch nicht zu verwerthen gewußt,
wenn wir die vortreffliche Geschichte Dänemarks von Dahlmann ausnehmen.

Die Composttion des Ganzen erinnert auffallend an Rankes Papste. Die
eigentliche Geschichte beschränkt sich aus den Zeitraum von den ersten Be¬
rührungen mit den französischen Normannen bis zur Unterdrückung der letzten
sächsischen Jnsurrection, also von etwa 1040 bis 1196. Aber die Perspek¬
tiven dehnen sich vorwärts und rückwärts aus; rückwärts bis zur sächsischen
Einwanderung und bis zu den ersten Raubzügen der Dänen, vorwärts bis in
unsere Zeit, so weit sich noch Spuren der alten Stammverschiedenheiten nach¬
weisen lassen. In Bezug auf die Sachsen in England ist neuerdings durch
Lappenberg und Kemble ein überreiches Material aufgespeichert worden, welches'
zum Theil dem französischen Geschichtschreiber noch nicht zu Gebote stand. Aber
die plastische Kraft, mit der er die wilden Gestalten der Vorzeit ans Licht
treten läßt, hat keiner erreicht. Die grausamen Gewaltthaten der Eroberer
waren zum Theil schon früher bekannt, aber man hatte sie noch nicht in ihrer
eignen Sprache vernommen, und sie waren nicht so künstlerisch gruppirt, um
die Phantasie zur Selbstthätigkeit anzuregen. Erst durch Thierry haben wir
die Empfindung, wie fremd und entsetzlich die ganze Zeit war. Zugleich werden
wir aber durch die Poesie, in welcher die Unterdrückten ihren Leiden Luft
machten, von einen tiefen menschlichen Mitleid ergriffen, und durch die Kunst
getragen, erfüllt die Wissenschaft unsere Seele mit Eindrücken, wie sie kaum
ein individuelles Drama hervorbringt. Ja selbst für die Unterdrücker gewinnen
wir Interesse, wenn wir ihre wilden Schlachtlieder lesen, wenn wir uns
gewissermaßen in ihren eignen Empfindungen berauschen. Thierry ist eine
'dichterische Natur, wie sie für den wahren Geschichtschreiber nothwendig ist,
denn auch dieser muß im Stande sein, individuelles Leben hervorzubringen.

Aber freilich wird er diesen Zweck nur erreichen, wenn er damit die gründ¬
lichste Kenntniß jener Hilfswissenschaften verbindet, die es uns allein möglich
macht, den wahren Sinn der Quellen zu verstehen und sie zu ergänzen, die
Statistik, die Nationalökonomie, die Sprachwissenschaft, und was sonst die
neuere Zeit uus an die Hand gibt, die sittlichen Zustände zu analysiren.
Diese Auffassung der Dinge war den alten Chronisten unbekannt, sie lassen
uns daher bei den wichtigsten Fragen im Stich, und um den Einzelheiten,
die sie erzählen, die richtige Regel unterzuschieben, müssen wir unsere eignen
Inductionen zu Hilfe nehmen. Thierry hat es an den sorgfältigsten Studien
nach dieser Seite hin nicht fehlen lassen; aber'da bei ihm der künstlerische Zweck
überwiegt, versteckt er sie eher, als daß er sich damit hervordrängte, und macht
so den Eindruck eines naiven epischen Erzählers, während er sich doch aus
die umfassendsten Reflexionen stützt.


bekannt. Bei uns aber gehen diese Studien in gelehrte Sammlungen auf;
in einem darstellenden Werk hat man sie noch nicht zu verwerthen gewußt,
wenn wir die vortreffliche Geschichte Dänemarks von Dahlmann ausnehmen.

Die Composttion des Ganzen erinnert auffallend an Rankes Papste. Die
eigentliche Geschichte beschränkt sich aus den Zeitraum von den ersten Be¬
rührungen mit den französischen Normannen bis zur Unterdrückung der letzten
sächsischen Jnsurrection, also von etwa 1040 bis 1196. Aber die Perspek¬
tiven dehnen sich vorwärts und rückwärts aus; rückwärts bis zur sächsischen
Einwanderung und bis zu den ersten Raubzügen der Dänen, vorwärts bis in
unsere Zeit, so weit sich noch Spuren der alten Stammverschiedenheiten nach¬
weisen lassen. In Bezug auf die Sachsen in England ist neuerdings durch
Lappenberg und Kemble ein überreiches Material aufgespeichert worden, welches'
zum Theil dem französischen Geschichtschreiber noch nicht zu Gebote stand. Aber
die plastische Kraft, mit der er die wilden Gestalten der Vorzeit ans Licht
treten läßt, hat keiner erreicht. Die grausamen Gewaltthaten der Eroberer
waren zum Theil schon früher bekannt, aber man hatte sie noch nicht in ihrer
eignen Sprache vernommen, und sie waren nicht so künstlerisch gruppirt, um
die Phantasie zur Selbstthätigkeit anzuregen. Erst durch Thierry haben wir
die Empfindung, wie fremd und entsetzlich die ganze Zeit war. Zugleich werden
wir aber durch die Poesie, in welcher die Unterdrückten ihren Leiden Luft
machten, von einen tiefen menschlichen Mitleid ergriffen, und durch die Kunst
getragen, erfüllt die Wissenschaft unsere Seele mit Eindrücken, wie sie kaum
ein individuelles Drama hervorbringt. Ja selbst für die Unterdrücker gewinnen
wir Interesse, wenn wir ihre wilden Schlachtlieder lesen, wenn wir uns
gewissermaßen in ihren eignen Empfindungen berauschen. Thierry ist eine
'dichterische Natur, wie sie für den wahren Geschichtschreiber nothwendig ist,
denn auch dieser muß im Stande sein, individuelles Leben hervorzubringen.

Aber freilich wird er diesen Zweck nur erreichen, wenn er damit die gründ¬
lichste Kenntniß jener Hilfswissenschaften verbindet, die es uns allein möglich
macht, den wahren Sinn der Quellen zu verstehen und sie zu ergänzen, die
Statistik, die Nationalökonomie, die Sprachwissenschaft, und was sonst die
neuere Zeit uus an die Hand gibt, die sittlichen Zustände zu analysiren.
Diese Auffassung der Dinge war den alten Chronisten unbekannt, sie lassen
uns daher bei den wichtigsten Fragen im Stich, und um den Einzelheiten,
die sie erzählen, die richtige Regel unterzuschieben, müssen wir unsere eignen
Inductionen zu Hilfe nehmen. Thierry hat es an den sorgfältigsten Studien
nach dieser Seite hin nicht fehlen lassen; aber'da bei ihm der künstlerische Zweck
überwiegt, versteckt er sie eher, als daß er sich damit hervordrängte, und macht
so den Eindruck eines naiven epischen Erzählers, während er sich doch aus
die umfassendsten Reflexionen stützt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/93>, abgerufen am 22.12.2024.