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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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große schottische Dichter hat unserm Geschichtschreiber nicht blos das Auge
für die wunderlichen Zustände Englands nach der Eroberung eröffnet, Zustände,
welche die bisherige Geschichtschreibung völlig ignorirte, sondern er hat ihn
gelehrt, wie man eine bisher unbeachtete Gattung von Quellen benutzen muß,
die Volkstraditionen, die Lieder und Sagen, nicht um daraus rationalistisch
einzelne historische Thatsachen herzuleiten, sondern um sich von der eigenthüm¬
lichen Vorstellungsweise einer Zeit, von der Färbung ihrer Sitten und Ideale
eine bestimmte Anschauung zu verschaffen. Der Einfluß geht so weit, daß,
Thierry die anmuthige Episode von Robim Hood genau dem schottischen Roman
nacherzählt, obgleich in diesem Punkte die Ueberlieferungen eine reiche Aus¬
wahl verstatteten. Der Gegensatz der neuen Form gegen die frühere ist fol¬
gender. Die ältern Geschichtschreiber übertrugen in die Begebenheiten der
großen Vorzeit die Ideen, Sitten und Begriffe ihrer eignen Periode. Wenn
sie sich des Unterschiedes bewußt waren, so gaben sie sich nicht die Mühe, ihn
auszudrücken. Aus den Quellen suchten sie nur die Thatsachen festzustellen,
die sie dann in der Sprache ihrer eignen Zeit wieder erzählten und mit Re¬
flexionen begleiteten, wie sie ihnen ihr eigner Gesichtskreis eingab. Thierry
sucht in den Quellen nicht die einzelnen Thatsachen, sondern hauptsächlich die
Farbe der Erzählung. So viel als möglich behält er die Sprache der Zeit¬
genossen bei, und wenn er den Inhalt derselben durch allgemeine Betrachtungen
ergänzen muß, so geschieht das nicht in der Form der Reflexion, sondern
durch die Zusammenstellung origineller Charakterzüge, aus denen der Leser sich
die Regel selbst herleiten mag. Er gesteht ein, daß sein Hauptzweck dabei ein
künstlerischer war, aber mit Recht bemerkt er, daß auch das Wissen dadurch
gewinnt, denn eine Uebertragung der alten Formen in moderne Begriffe schwächt
die richtige Vorstellung ab, und nur durch jene Localsarbe gewinnen die ein¬
zelnen Personen und die Massen ein historisches Leben. Nur darf man das
nicht so verstehn, als ob er in der Art naiver Erzähler bloße Einzelheiten
zusammenstellen wollte; sein Zweck ist, die allgemeinen Zustände, also die
Regel, festzustellen. Aber er thut es aus dem Wege der Induction. Er malt
sich die Zustände bis inS Einzelne aus, und anstatt das, was häufig geschieht,
in einen allgemeinen Satz zusammenzufassen, macht er es durch verschieden¬
artige Erzählungen anschaulich, die er so auswählt und gruppirt, daß sie ein¬
ander ergänzen und ein zusammenhängendes Bild hervorbringen. Außer den
Chronisten zieht er vorzugsweise die Volkslieder zu Rathe, zum Theil veranlaßt
durch W. Scott, zum Theil durch die Sammlung der griechischen Legenden,
die in dem Unabhängigkeitskampf Griechenlands aufgetaucht waren, und die ihm
als Analogie seinen eignen Stoff versinnlichen. Einen wie großen Werth die Mär¬
chen, Sagen und Ueberlieferungen des Volks für das Studium der Geschichte
haben, ist uns Deutschen durch die Arbeiten der Gebrüder Grimm hinlänglich


große schottische Dichter hat unserm Geschichtschreiber nicht blos das Auge
für die wunderlichen Zustände Englands nach der Eroberung eröffnet, Zustände,
welche die bisherige Geschichtschreibung völlig ignorirte, sondern er hat ihn
gelehrt, wie man eine bisher unbeachtete Gattung von Quellen benutzen muß,
die Volkstraditionen, die Lieder und Sagen, nicht um daraus rationalistisch
einzelne historische Thatsachen herzuleiten, sondern um sich von der eigenthüm¬
lichen Vorstellungsweise einer Zeit, von der Färbung ihrer Sitten und Ideale
eine bestimmte Anschauung zu verschaffen. Der Einfluß geht so weit, daß,
Thierry die anmuthige Episode von Robim Hood genau dem schottischen Roman
nacherzählt, obgleich in diesem Punkte die Ueberlieferungen eine reiche Aus¬
wahl verstatteten. Der Gegensatz der neuen Form gegen die frühere ist fol¬
gender. Die ältern Geschichtschreiber übertrugen in die Begebenheiten der
großen Vorzeit die Ideen, Sitten und Begriffe ihrer eignen Periode. Wenn
sie sich des Unterschiedes bewußt waren, so gaben sie sich nicht die Mühe, ihn
auszudrücken. Aus den Quellen suchten sie nur die Thatsachen festzustellen,
die sie dann in der Sprache ihrer eignen Zeit wieder erzählten und mit Re¬
flexionen begleiteten, wie sie ihnen ihr eigner Gesichtskreis eingab. Thierry
sucht in den Quellen nicht die einzelnen Thatsachen, sondern hauptsächlich die
Farbe der Erzählung. So viel als möglich behält er die Sprache der Zeit¬
genossen bei, und wenn er den Inhalt derselben durch allgemeine Betrachtungen
ergänzen muß, so geschieht das nicht in der Form der Reflexion, sondern
durch die Zusammenstellung origineller Charakterzüge, aus denen der Leser sich
die Regel selbst herleiten mag. Er gesteht ein, daß sein Hauptzweck dabei ein
künstlerischer war, aber mit Recht bemerkt er, daß auch das Wissen dadurch
gewinnt, denn eine Uebertragung der alten Formen in moderne Begriffe schwächt
die richtige Vorstellung ab, und nur durch jene Localsarbe gewinnen die ein¬
zelnen Personen und die Massen ein historisches Leben. Nur darf man das
nicht so verstehn, als ob er in der Art naiver Erzähler bloße Einzelheiten
zusammenstellen wollte; sein Zweck ist, die allgemeinen Zustände, also die
Regel, festzustellen. Aber er thut es aus dem Wege der Induction. Er malt
sich die Zustände bis inS Einzelne aus, und anstatt das, was häufig geschieht,
in einen allgemeinen Satz zusammenzufassen, macht er es durch verschieden¬
artige Erzählungen anschaulich, die er so auswählt und gruppirt, daß sie ein¬
ander ergänzen und ein zusammenhängendes Bild hervorbringen. Außer den
Chronisten zieht er vorzugsweise die Volkslieder zu Rathe, zum Theil veranlaßt
durch W. Scott, zum Theil durch die Sammlung der griechischen Legenden,
die in dem Unabhängigkeitskampf Griechenlands aufgetaucht waren, und die ihm
als Analogie seinen eignen Stoff versinnlichen. Einen wie großen Werth die Mär¬
chen, Sagen und Ueberlieferungen des Volks für das Studium der Geschichte
haben, ist uns Deutschen durch die Arbeiten der Gebrüder Grimm hinlänglich


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[0092] große schottische Dichter hat unserm Geschichtschreiber nicht blos das Auge für die wunderlichen Zustände Englands nach der Eroberung eröffnet, Zustände, welche die bisherige Geschichtschreibung völlig ignorirte, sondern er hat ihn gelehrt, wie man eine bisher unbeachtete Gattung von Quellen benutzen muß, die Volkstraditionen, die Lieder und Sagen, nicht um daraus rationalistisch einzelne historische Thatsachen herzuleiten, sondern um sich von der eigenthüm¬ lichen Vorstellungsweise einer Zeit, von der Färbung ihrer Sitten und Ideale eine bestimmte Anschauung zu verschaffen. Der Einfluß geht so weit, daß, Thierry die anmuthige Episode von Robim Hood genau dem schottischen Roman nacherzählt, obgleich in diesem Punkte die Ueberlieferungen eine reiche Aus¬ wahl verstatteten. Der Gegensatz der neuen Form gegen die frühere ist fol¬ gender. Die ältern Geschichtschreiber übertrugen in die Begebenheiten der großen Vorzeit die Ideen, Sitten und Begriffe ihrer eignen Periode. Wenn sie sich des Unterschiedes bewußt waren, so gaben sie sich nicht die Mühe, ihn auszudrücken. Aus den Quellen suchten sie nur die Thatsachen festzustellen, die sie dann in der Sprache ihrer eignen Zeit wieder erzählten und mit Re¬ flexionen begleiteten, wie sie ihnen ihr eigner Gesichtskreis eingab. Thierry sucht in den Quellen nicht die einzelnen Thatsachen, sondern hauptsächlich die Farbe der Erzählung. So viel als möglich behält er die Sprache der Zeit¬ genossen bei, und wenn er den Inhalt derselben durch allgemeine Betrachtungen ergänzen muß, so geschieht das nicht in der Form der Reflexion, sondern durch die Zusammenstellung origineller Charakterzüge, aus denen der Leser sich die Regel selbst herleiten mag. Er gesteht ein, daß sein Hauptzweck dabei ein künstlerischer war, aber mit Recht bemerkt er, daß auch das Wissen dadurch gewinnt, denn eine Uebertragung der alten Formen in moderne Begriffe schwächt die richtige Vorstellung ab, und nur durch jene Localsarbe gewinnen die ein¬ zelnen Personen und die Massen ein historisches Leben. Nur darf man das nicht so verstehn, als ob er in der Art naiver Erzähler bloße Einzelheiten zusammenstellen wollte; sein Zweck ist, die allgemeinen Zustände, also die Regel, festzustellen. Aber er thut es aus dem Wege der Induction. Er malt sich die Zustände bis inS Einzelne aus, und anstatt das, was häufig geschieht, in einen allgemeinen Satz zusammenzufassen, macht er es durch verschieden¬ artige Erzählungen anschaulich, die er so auswählt und gruppirt, daß sie ein¬ ander ergänzen und ein zusammenhängendes Bild hervorbringen. Außer den Chronisten zieht er vorzugsweise die Volkslieder zu Rathe, zum Theil veranlaßt durch W. Scott, zum Theil durch die Sammlung der griechischen Legenden, die in dem Unabhängigkeitskampf Griechenlands aufgetaucht waren, und die ihm als Analogie seinen eignen Stoff versinnlichen. Einen wie großen Werth die Mär¬ chen, Sagen und Ueberlieferungen des Volks für das Studium der Geschichte haben, ist uns Deutschen durch die Arbeiten der Gebrüder Grimm hinlänglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/92>, abgerufen am 25.08.2024.