Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.mehr ankommt, als auf den systematisch entwickelten Glauben. Wenn wir Bereits <8i2 veröffentlichte Rupp eine Predigt über den.christlichen 9"
mehr ankommt, als auf den systematisch entwickelten Glauben. Wenn wir Bereits <8i2 veröffentlichte Rupp eine Predigt über den.christlichen 9"
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103208"/> <p xml:id="ID_224" prev="#ID_223"> mehr ankommt, als auf den systematisch entwickelten Glauben. Wenn wir<lb/> ihn also mit den philosophischen Systemen in Zusammenhang bringen wollen,<lb/> so würde er sich mehr zu Schleiermacher als zu Hegel hinneigen, ja vielleicht<lb/> würde sein Princip des Individualismus am bestimmtesten in Lesstng ausge¬<lb/> sprochen sein, nur daß sich dieser einigermaßen darüber wundern würde, im<lb/> Schoß einer Gemeinde die - freie Forschung angestellt zu sehen: eine Verwun¬<lb/> derung, die wir theilen. Wir lassen indeß diese religiöse oder kirchliche Frage<lb/> hier bei Seite und fassen Rupp nur als Schriftsteller auf. Indem wir uns<lb/> vorbehalte«, auf manche der ernsten Fragen, die er in seiner Zeitschrift anregt,<lb/> später einzugehen, heben wir hier zunächst nur zwei derselben hervor: die<lb/> Definition des Christenthums als der Bildungsquelle der modernen Cultur<lb/> und das Verhältniß der Gesellschaft zum Staat.</p><lb/> <p xml:id="ID_225" next="#ID_226"> Bereits <8i2 veröffentlichte Rupp eine Predigt über den.christlichen<lb/> Staat, indem er vom Christenthum behauptete, es sei nicht eigentlich oder nicht<lb/> hauptsächlich eine Religion, sondern es sei der leitende Geist der neuen Ge¬<lb/> schichte, die Quelle, aus der die ganze Bewegung unserer Cultur herzuleiten<lb/> sei. Die Behauptung erregte damals bei der Kirche Anstoß, wir müssen sie<lb/> heute vom Standpunkt des LaienthumS anfechten. Wir sind dazu um so mehr<lb/> veranlaßt, da er sie in der neuesten Nummer vom 7. December in einem Ar¬<lb/> tikel, der offenbar sein jetziges Glaubensbekenntniß enthält, von neuem auf¬<lb/> stellt. Er greift diejenigen an, die das Christenthum für entwicklungsunfähig<lb/> halten, und behauptet, „daß diese Antwort, genau genommen, uns nichts Ge¬<lb/> ringeres zumuthet, als eine Entwicklung von wenigstens viertausend Jahren für<lb/> unbrauchbar zu erklären und auf den Anfang der Geschichte zurückzugehen,<lb/> um, wie man eS eben nennen will, mit dem Paradiese oder Urwalde und<lb/> deren Gesellschaft noch einmal zu beginnen. Denn das Christenthum beschränkt<lb/> sich keineswegs, wie sie anzunehmen scheinen, aus einige Dogmen, welche auf<lb/> einzelnen Concilien, nicht selten sehr zufällig, entstanden sind; sondern das<lb/> Christenthum, erkannt als das, was es ist, als die Verbindung und Durch¬<lb/> dringung der griechisch-römischen Welt und des Mosaismus, begreift alles<lb/> und jedes in sich, was zu unserer historischen Cultur gehört. Die Kirche ist<lb/> nur die eine Seite dieses Christenthums; der neue Staat, die neue Philosophie,<lb/> die neue Kunst gehören zur Entfaltung der Principien deS Christenthums nicht<lb/> weniger als die Kirche. Der Widerspruch, welchen der Staat und die Philo¬<lb/> sophie gegen die Kirche erheben, ist in alten und neuen Zeiten nicht daraus<lb/> zu erklären, daß jener ein anderes Princip als diese vertreten, sondern daraus,<lb/> daß die Gedanken, welche zum Christenthum verbunden waren, in den strei-<lb/> tenden Parteien in verschiedenem Mischungsverhältnisse vorhanden waren."<lb/> Bon dieser Behauptung läßt er nur zwei Ausnahmen gelten: das Princip<lb/> cer Gewissensfreiheit und den Aufschwung der Naturwissenschaft und National-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 9"</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0075]
mehr ankommt, als auf den systematisch entwickelten Glauben. Wenn wir
ihn also mit den philosophischen Systemen in Zusammenhang bringen wollen,
so würde er sich mehr zu Schleiermacher als zu Hegel hinneigen, ja vielleicht
würde sein Princip des Individualismus am bestimmtesten in Lesstng ausge¬
sprochen sein, nur daß sich dieser einigermaßen darüber wundern würde, im
Schoß einer Gemeinde die - freie Forschung angestellt zu sehen: eine Verwun¬
derung, die wir theilen. Wir lassen indeß diese religiöse oder kirchliche Frage
hier bei Seite und fassen Rupp nur als Schriftsteller auf. Indem wir uns
vorbehalte«, auf manche der ernsten Fragen, die er in seiner Zeitschrift anregt,
später einzugehen, heben wir hier zunächst nur zwei derselben hervor: die
Definition des Christenthums als der Bildungsquelle der modernen Cultur
und das Verhältniß der Gesellschaft zum Staat.
Bereits <8i2 veröffentlichte Rupp eine Predigt über den.christlichen
Staat, indem er vom Christenthum behauptete, es sei nicht eigentlich oder nicht
hauptsächlich eine Religion, sondern es sei der leitende Geist der neuen Ge¬
schichte, die Quelle, aus der die ganze Bewegung unserer Cultur herzuleiten
sei. Die Behauptung erregte damals bei der Kirche Anstoß, wir müssen sie
heute vom Standpunkt des LaienthumS anfechten. Wir sind dazu um so mehr
veranlaßt, da er sie in der neuesten Nummer vom 7. December in einem Ar¬
tikel, der offenbar sein jetziges Glaubensbekenntniß enthält, von neuem auf¬
stellt. Er greift diejenigen an, die das Christenthum für entwicklungsunfähig
halten, und behauptet, „daß diese Antwort, genau genommen, uns nichts Ge¬
ringeres zumuthet, als eine Entwicklung von wenigstens viertausend Jahren für
unbrauchbar zu erklären und auf den Anfang der Geschichte zurückzugehen,
um, wie man eS eben nennen will, mit dem Paradiese oder Urwalde und
deren Gesellschaft noch einmal zu beginnen. Denn das Christenthum beschränkt
sich keineswegs, wie sie anzunehmen scheinen, aus einige Dogmen, welche auf
einzelnen Concilien, nicht selten sehr zufällig, entstanden sind; sondern das
Christenthum, erkannt als das, was es ist, als die Verbindung und Durch¬
dringung der griechisch-römischen Welt und des Mosaismus, begreift alles
und jedes in sich, was zu unserer historischen Cultur gehört. Die Kirche ist
nur die eine Seite dieses Christenthums; der neue Staat, die neue Philosophie,
die neue Kunst gehören zur Entfaltung der Principien deS Christenthums nicht
weniger als die Kirche. Der Widerspruch, welchen der Staat und die Philo¬
sophie gegen die Kirche erheben, ist in alten und neuen Zeiten nicht daraus
zu erklären, daß jener ein anderes Princip als diese vertreten, sondern daraus,
daß die Gedanken, welche zum Christenthum verbunden waren, in den strei-
tenden Parteien in verschiedenem Mischungsverhältnisse vorhanden waren."
Bon dieser Behauptung läßt er nur zwei Ausnahmen gelten: das Princip
cer Gewissensfreiheit und den Aufschwung der Naturwissenschaft und National-
9"
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