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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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wichtigen Punkten der Gesetzgebung eine trotz aller Hindernisse fortschreitende
Bewegung und gibt uns den Muth zu neuem Hoffen; dann aber bringt es
den Zusammenhang der Verfassungsgrundsätze mit dem Geist der früheren
preußischen Gesetzgebung zur Evidenz und nimmt dem Staatsgrundgesetz von
18S0 den Charakter einer unmotivirten Frühgeburt, eines Products gottloser
Menschenwillkür, die sich wider den Geist der Geschichte empört, wie die
neupreußische Partei uns so gerne glauben machen möchte. Mancher Hin¬
weis der Anmerkungen aus andere deutsche Verfassungen und auf das be¬
währte Vorbild aller Constitutionen, die englische, machen es dem Leser mög¬
lich, die preußische Verfassung nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit
ähnlichen politischen Bildungen zu vergleichen. Beobachtung deS Entstehens
d und Vergleichung aber sind die beiden mächtigsten Mittel, über welche der
Mensch verfügt, wenn er zum Kern der Dinge dringen will und die Staats¬
wissenschaften bedienen sich ihrer mit demselben Erfolg wie Anatomie oder
Linguistik.

Die Stellung Preußens zum deutschen Bunde hat es nothwendig gemacht
auch auf dieses Verhältniß einzugehen, obgleich Herr von Romme ihm außer
seiner factischen Existenz keine staatsrechtliche Bedeutung zuerkennt. Denn die
alte Verfassung des deutschen Bundes ist immer eine Anomalie gewesen; für
Preußen allerdings weniger fühlbar, bevor es in die Reihe der constitutionellen
Staaten getreten war, als jetzt, wo eS wie alle andern deutschen Staaten --
Oestreich nicht dazugerechnet -- eine Repräsentativverfassung besitzt. Das Ge¬
sagte wird deutlicher werden, wenn wir den Fundamentalunterschied zwischen
Bundesstaat und Staatenbund kurz angeben. Dieser ist eine engere und
dauernde Verbindung mehrer Staaten in auswärtigen Verhältnissen, nament¬
lich zum Schutz gegen das Ausland. Seine Stellung gehört wesentlich ins
Völkerrecht, seine Verfassung greift in die innern Verhältnisse (z. B. Militär-
versassung) nur zu jenem Zweck ein und bringt, wie die meisten auswärtigen
Angelegenheiten, nur die Regierungen miteinander in Verkehr. Der Bundes¬
staat beherrscht auch die innern Einrichtungen seiner Glieder, ohne jedoch des¬
halb ihre Souveränetät zu vernichten. Deshalb verlangt seine Verfassung Mit¬
wirkung aller derjenigen Elemente, welche in der Verfassung der einzelnen
Staaten zur Geltung kommen. So ist es in Amerika und seit -1847 auch in
der Schweiz. In der deutschen Bundesversammlung sind und waren immer
nur die Regierungen vertreten, obwol die Bundesacte in den sogenannten
"besondern Bestimmungen" und der Befugniß zu Präventivgesetzen für die
innere Sicherung der Staaten, wovon die Ausnahmegesetze eine Probe bildeten,
die Macht der Bundesbehörde über die Kompetenz des Staatenbunds erwei¬
terte. Deshalb nannten wir die Bundesverfassung von 1815 eine Anomalie.
Sie ist aber seitdem noch etwas Andres geworden.


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wichtigen Punkten der Gesetzgebung eine trotz aller Hindernisse fortschreitende
Bewegung und gibt uns den Muth zu neuem Hoffen; dann aber bringt es
den Zusammenhang der Verfassungsgrundsätze mit dem Geist der früheren
preußischen Gesetzgebung zur Evidenz und nimmt dem Staatsgrundgesetz von
18S0 den Charakter einer unmotivirten Frühgeburt, eines Products gottloser
Menschenwillkür, die sich wider den Geist der Geschichte empört, wie die
neupreußische Partei uns so gerne glauben machen möchte. Mancher Hin¬
weis der Anmerkungen aus andere deutsche Verfassungen und auf das be¬
währte Vorbild aller Constitutionen, die englische, machen es dem Leser mög¬
lich, die preußische Verfassung nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit
ähnlichen politischen Bildungen zu vergleichen. Beobachtung deS Entstehens
d und Vergleichung aber sind die beiden mächtigsten Mittel, über welche der
Mensch verfügt, wenn er zum Kern der Dinge dringen will und die Staats¬
wissenschaften bedienen sich ihrer mit demselben Erfolg wie Anatomie oder
Linguistik.

Die Stellung Preußens zum deutschen Bunde hat es nothwendig gemacht
auch auf dieses Verhältniß einzugehen, obgleich Herr von Romme ihm außer
seiner factischen Existenz keine staatsrechtliche Bedeutung zuerkennt. Denn die
alte Verfassung des deutschen Bundes ist immer eine Anomalie gewesen; für
Preußen allerdings weniger fühlbar, bevor es in die Reihe der constitutionellen
Staaten getreten war, als jetzt, wo eS wie alle andern deutschen Staaten —
Oestreich nicht dazugerechnet — eine Repräsentativverfassung besitzt. Das Ge¬
sagte wird deutlicher werden, wenn wir den Fundamentalunterschied zwischen
Bundesstaat und Staatenbund kurz angeben. Dieser ist eine engere und
dauernde Verbindung mehrer Staaten in auswärtigen Verhältnissen, nament¬
lich zum Schutz gegen das Ausland. Seine Stellung gehört wesentlich ins
Völkerrecht, seine Verfassung greift in die innern Verhältnisse (z. B. Militär-
versassung) nur zu jenem Zweck ein und bringt, wie die meisten auswärtigen
Angelegenheiten, nur die Regierungen miteinander in Verkehr. Der Bundes¬
staat beherrscht auch die innern Einrichtungen seiner Glieder, ohne jedoch des¬
halb ihre Souveränetät zu vernichten. Deshalb verlangt seine Verfassung Mit¬
wirkung aller derjenigen Elemente, welche in der Verfassung der einzelnen
Staaten zur Geltung kommen. So ist es in Amerika und seit -1847 auch in
der Schweiz. In der deutschen Bundesversammlung sind und waren immer
nur die Regierungen vertreten, obwol die Bundesacte in den sogenannten
„besondern Bestimmungen" und der Befugniß zu Präventivgesetzen für die
innere Sicherung der Staaten, wovon die Ausnahmegesetze eine Probe bildeten,
die Macht der Bundesbehörde über die Kompetenz des Staatenbunds erwei¬
terte. Deshalb nannten wir die Bundesverfassung von 1815 eine Anomalie.
Sie ist aber seitdem noch etwas Andres geworden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/507>, abgerufen am 23.07.2024.