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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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von politischen Ueberzeugungen in dem Urtheilenden erkennen zu lassen. Eine
Spur von Phrase wird man in dem ganzen Buch vergeblich suchen, bisweilen
mag der Ausdruck zu wortreich sein. In der Methode hat der Verfasser nichts
geändert. Die zweite Lieferung enthält Fortsetzung deS Abschnitts "von den
Staatsbürgern", dann "von der Volksvertretung", "von den Garantien der
Verfassung", "von dem Verhältniß des Staats zu Kirche und Schule", "von
dem Verhältniß Preußens zum deutschen Bunde." -- Die einzelnen Para¬
graphen werden übersichtlich gruppirt, mit Hilfe der stenographischen Berichte
über die Kammerverhandlungen und sonstigem Material, so weit es dem Verfasser
zu Gebote stand, nach allen Regeln juristischer Interpretation erläutert, und da¬
raus die Konsequenzen gezogen, gleichgiltig ob sie mit der heutigen Praxis
der Regierung in Einklang stehen, oder ihr gradezu widersprechen. Was alles
aus ein und demselben Satz gemacht werden kann, und wie geduldig sich der
Sinn aus den klarsten Worten herausescamotiren läßt, wenn nicht feste
persönliche Ansichten dahinter stehen, kann man hier aus sprechenden Beispielen
lernen. Um aus dem Art. i der Verfassung das Fortbestehen der Standes¬
vorrechte zu deduciren, wird freilich die Sophistik der Herren Stahl und
Wagner erforderlich sein. Nur ganz besonders construirte Geister begreifen,
daß die wahre Gleichheit im Recht eben gar nichts anders sei, als der Schutz
der bestehenden Ungleichheiten. Ueber die Reactivirung der alten Kreis- und
Provinzialstände, über die Behandlung der Presse und die rechtliche Bedeutung
des neuen Bundestags kann es bei einiger Unparteilichkeit wol auch kaum
Meinungsverschiedenheiten geben. Dagegen ist dies für andere Stellen nicht
so unbedingt zu behaupten. Es gibt deren, die wirklich mehrdeutig sind und
eine authentische Interpretation durch die drei Factoren der Gesetzgebung erfor¬
dern ; es gibt andere, an deren Sinn zwar nicht gezweifelt werden kann, (z. B. die
Ermächtigung der Negierung zur einseitigen Forterhebung "bestehender Steuern"
in Art. 109) wenn man auf ihre Entstehungsgeschichte zurückgeht, bei denen
die ungenaue Fassung aber eine entgegengesetzte Ansicht wenigstens formell
rechtfertigt. Die genauere Erörterung dieser Fragen ist in die Anmerkungen
verwiesen, in wichtigeren Fällen wird auch das Nöthigste aus den Debatten
der Kammern und den Aeußerungen der Minister oder Regierungscommifsarien
mitgetheilt, um dem Leser ein eignes Urtheil möglich zu machen. Daß
sich ein genauer Nachweis der einschlagenden Literatur findet, versteht sich von
selbst. Besonders lobend aber verdient hervorgehoben zu werden, daß Herr
von Romme, wie er das Werk mit einer kurzen Geschichte der preußischen
Verfassung im Ganzen eröffnete, so auch jedem Abschnitt eine rechtöhistorische
Einleitung vorausschickt und bisweilen selbst Specialgesctze von ihrem Keim
im Landrecht durch alle Phasen bis zur endlichen Firirung in der Verfas¬
sungsurkunde verfolgt. Das hat zwei gute Wirkungen. Einmal zeigt es in


von politischen Ueberzeugungen in dem Urtheilenden erkennen zu lassen. Eine
Spur von Phrase wird man in dem ganzen Buch vergeblich suchen, bisweilen
mag der Ausdruck zu wortreich sein. In der Methode hat der Verfasser nichts
geändert. Die zweite Lieferung enthält Fortsetzung deS Abschnitts „von den
Staatsbürgern", dann „von der Volksvertretung", „von den Garantien der
Verfassung", „von dem Verhältniß des Staats zu Kirche und Schule", „von
dem Verhältniß Preußens zum deutschen Bunde." — Die einzelnen Para¬
graphen werden übersichtlich gruppirt, mit Hilfe der stenographischen Berichte
über die Kammerverhandlungen und sonstigem Material, so weit es dem Verfasser
zu Gebote stand, nach allen Regeln juristischer Interpretation erläutert, und da¬
raus die Konsequenzen gezogen, gleichgiltig ob sie mit der heutigen Praxis
der Regierung in Einklang stehen, oder ihr gradezu widersprechen. Was alles
aus ein und demselben Satz gemacht werden kann, und wie geduldig sich der
Sinn aus den klarsten Worten herausescamotiren läßt, wenn nicht feste
persönliche Ansichten dahinter stehen, kann man hier aus sprechenden Beispielen
lernen. Um aus dem Art. i der Verfassung das Fortbestehen der Standes¬
vorrechte zu deduciren, wird freilich die Sophistik der Herren Stahl und
Wagner erforderlich sein. Nur ganz besonders construirte Geister begreifen,
daß die wahre Gleichheit im Recht eben gar nichts anders sei, als der Schutz
der bestehenden Ungleichheiten. Ueber die Reactivirung der alten Kreis- und
Provinzialstände, über die Behandlung der Presse und die rechtliche Bedeutung
des neuen Bundestags kann es bei einiger Unparteilichkeit wol auch kaum
Meinungsverschiedenheiten geben. Dagegen ist dies für andere Stellen nicht
so unbedingt zu behaupten. Es gibt deren, die wirklich mehrdeutig sind und
eine authentische Interpretation durch die drei Factoren der Gesetzgebung erfor¬
dern ; es gibt andere, an deren Sinn zwar nicht gezweifelt werden kann, (z. B. die
Ermächtigung der Negierung zur einseitigen Forterhebung „bestehender Steuern"
in Art. 109) wenn man auf ihre Entstehungsgeschichte zurückgeht, bei denen
die ungenaue Fassung aber eine entgegengesetzte Ansicht wenigstens formell
rechtfertigt. Die genauere Erörterung dieser Fragen ist in die Anmerkungen
verwiesen, in wichtigeren Fällen wird auch das Nöthigste aus den Debatten
der Kammern und den Aeußerungen der Minister oder Regierungscommifsarien
mitgetheilt, um dem Leser ein eignes Urtheil möglich zu machen. Daß
sich ein genauer Nachweis der einschlagenden Literatur findet, versteht sich von
selbst. Besonders lobend aber verdient hervorgehoben zu werden, daß Herr
von Romme, wie er das Werk mit einer kurzen Geschichte der preußischen
Verfassung im Ganzen eröffnete, so auch jedem Abschnitt eine rechtöhistorische
Einleitung vorausschickt und bisweilen selbst Specialgesctze von ihrem Keim
im Landrecht durch alle Phasen bis zur endlichen Firirung in der Verfas¬
sungsurkunde verfolgt. Das hat zwei gute Wirkungen. Einmal zeigt es in


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[0506] von politischen Ueberzeugungen in dem Urtheilenden erkennen zu lassen. Eine Spur von Phrase wird man in dem ganzen Buch vergeblich suchen, bisweilen mag der Ausdruck zu wortreich sein. In der Methode hat der Verfasser nichts geändert. Die zweite Lieferung enthält Fortsetzung deS Abschnitts „von den Staatsbürgern", dann „von der Volksvertretung", „von den Garantien der Verfassung", „von dem Verhältniß des Staats zu Kirche und Schule", „von dem Verhältniß Preußens zum deutschen Bunde." — Die einzelnen Para¬ graphen werden übersichtlich gruppirt, mit Hilfe der stenographischen Berichte über die Kammerverhandlungen und sonstigem Material, so weit es dem Verfasser zu Gebote stand, nach allen Regeln juristischer Interpretation erläutert, und da¬ raus die Konsequenzen gezogen, gleichgiltig ob sie mit der heutigen Praxis der Regierung in Einklang stehen, oder ihr gradezu widersprechen. Was alles aus ein und demselben Satz gemacht werden kann, und wie geduldig sich der Sinn aus den klarsten Worten herausescamotiren läßt, wenn nicht feste persönliche Ansichten dahinter stehen, kann man hier aus sprechenden Beispielen lernen. Um aus dem Art. i der Verfassung das Fortbestehen der Standes¬ vorrechte zu deduciren, wird freilich die Sophistik der Herren Stahl und Wagner erforderlich sein. Nur ganz besonders construirte Geister begreifen, daß die wahre Gleichheit im Recht eben gar nichts anders sei, als der Schutz der bestehenden Ungleichheiten. Ueber die Reactivirung der alten Kreis- und Provinzialstände, über die Behandlung der Presse und die rechtliche Bedeutung des neuen Bundestags kann es bei einiger Unparteilichkeit wol auch kaum Meinungsverschiedenheiten geben. Dagegen ist dies für andere Stellen nicht so unbedingt zu behaupten. Es gibt deren, die wirklich mehrdeutig sind und eine authentische Interpretation durch die drei Factoren der Gesetzgebung erfor¬ dern ; es gibt andere, an deren Sinn zwar nicht gezweifelt werden kann, (z. B. die Ermächtigung der Negierung zur einseitigen Forterhebung „bestehender Steuern" in Art. 109) wenn man auf ihre Entstehungsgeschichte zurückgeht, bei denen die ungenaue Fassung aber eine entgegengesetzte Ansicht wenigstens formell rechtfertigt. Die genauere Erörterung dieser Fragen ist in die Anmerkungen verwiesen, in wichtigeren Fällen wird auch das Nöthigste aus den Debatten der Kammern und den Aeußerungen der Minister oder Regierungscommifsarien mitgetheilt, um dem Leser ein eignes Urtheil möglich zu machen. Daß sich ein genauer Nachweis der einschlagenden Literatur findet, versteht sich von selbst. Besonders lobend aber verdient hervorgehoben zu werden, daß Herr von Romme, wie er das Werk mit einer kurzen Geschichte der preußischen Verfassung im Ganzen eröffnete, so auch jedem Abschnitt eine rechtöhistorische Einleitung vorausschickt und bisweilen selbst Specialgesctze von ihrem Keim im Landrecht durch alle Phasen bis zur endlichen Firirung in der Verfas¬ sungsurkunde verfolgt. Das hat zwei gute Wirkungen. Einmal zeigt es in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/506>, abgerufen am 22.07.2024.