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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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fachen, da es ihm vorzugsweise auf den moralisch-politischen Schluß ankommt,
und dieser Schluß ist doch ungenau. Hume macht es dem Leser durch seine
Erzählung möglich, ihn zu controliren, ja ihm zuweilen zu widersprechen. Bei
Guizot ist das Gewebe dagegen so fest gefügt, daß man ihm willenlos folgen
muß. Der erste Theil des Werks war in Bezug auf die französischen Zustände
von 1826, der zweite in Bezug auf die Februarrevolution geschrieben. Dort
war es eine Warnung gegen die Uebergriffe der royalistischen Partei und gegen
die Verletzungen der Verfassung, hier eine Warnung vor der Revolution. Der
Fortschritt erscheint nur dann sicher, wenn man den Boden des Gesetzes ent¬
weder gar nicht verläßt, oder wenigstens augenblicklich an ihn wieder anzu¬
knüpfen sucht. Wilhelm III. und Washington waren groß und glücklich, Crom-
well trotz seiner hohen Begabung mußte scheitern, "weil er sich mit dem Schmu;
der Revolution besudelt und ihr Verheißungen gegeben hatte, die er als be¬
sonnener Staatsmann nicht erfüllen konnte. Die Nutzanwendung liegt nahe;
aber Guizot vergißt, daß bei den Engländern das Festhalten des Rechtsbodens
viel wichtiger ist als bei den Franzosen, weil ihnen durch eine vielhundertjäh¬
rige Entwicklung das Bewußtsein der Rechtsform zur andern Natur geworden
ist. Bei den Franzosen ist dieses Rechtsbewußtsein entweder gar nicht, oder
nur in sehr geringem Maße vorhanden. Wer auf sie einwirken will, muß an¬
dere Hebel anwenden, und Napoleon III. versteht sein Volk besser , als der
Minister Louis Philipps, der auch die Rechtsform wahrte, aber durch den In¬
halt, den er ihr gab, die Revolution herbeiführte, und der im gegenwärtigen
Augenblick so ganz in seine Doctrin aufgeht, daß er zur Anknüpfung des
NechtSbodens eine Allianz mit der Legitimität d. h. mit der Priester- und
Adelsherrschaft versucht. -- Noch in einer Beziehung steht die Geschichte der
Revolution hinter jenen Vorlesungen zurück. In diesen ist der Ton unbe¬
fangen, natürlich und sachgemäß, weil die Stellung des Lehrers zu Schülern
ihm geläufig ist, während der Geschichtschreiber die Vorsehung fortwährend
eine Rolle spielen läßt, die er vor seinem eignen Verstand und Gewissen kaum
verantworten kann. Uebrigens ist in der zweiten Hälfte die Erzählung aus¬
führlicher und epischer, und die Doctrin drängt sich weniger hervor. Aber
freilich sind auch erst seit der Zeit die Darstellungen von Carlyle und Macau-
lav veröffentlicht, mit denen der französische Geschichtschreiber nicht wetteifern
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In mancher Beziehung eignete sich Guizot vorzüglich zum Geschichtschrei¬
ber einer Revolution, die vornehmlich aus religiösen Motiven beruhte. Wenn
er auch die kirchlichen Interessen aus dem Gebiet des Staats überall den
politischen Rücksichten unterordnet, so war er doch persönlich in seinem Glau¬
ben sehr fest, ja der streng puritanische Anstrich seines Charakters befähigte
ihn, jene zähen Naturen, jene starren und finstern Gemüther zu verstehen, die


fachen, da es ihm vorzugsweise auf den moralisch-politischen Schluß ankommt,
und dieser Schluß ist doch ungenau. Hume macht es dem Leser durch seine
Erzählung möglich, ihn zu controliren, ja ihm zuweilen zu widersprechen. Bei
Guizot ist das Gewebe dagegen so fest gefügt, daß man ihm willenlos folgen
muß. Der erste Theil des Werks war in Bezug auf die französischen Zustände
von 1826, der zweite in Bezug auf die Februarrevolution geschrieben. Dort
war es eine Warnung gegen die Uebergriffe der royalistischen Partei und gegen
die Verletzungen der Verfassung, hier eine Warnung vor der Revolution. Der
Fortschritt erscheint nur dann sicher, wenn man den Boden des Gesetzes ent¬
weder gar nicht verläßt, oder wenigstens augenblicklich an ihn wieder anzu¬
knüpfen sucht. Wilhelm III. und Washington waren groß und glücklich, Crom-
well trotz seiner hohen Begabung mußte scheitern, »weil er sich mit dem Schmu;
der Revolution besudelt und ihr Verheißungen gegeben hatte, die er als be¬
sonnener Staatsmann nicht erfüllen konnte. Die Nutzanwendung liegt nahe;
aber Guizot vergißt, daß bei den Engländern das Festhalten des Rechtsbodens
viel wichtiger ist als bei den Franzosen, weil ihnen durch eine vielhundertjäh¬
rige Entwicklung das Bewußtsein der Rechtsform zur andern Natur geworden
ist. Bei den Franzosen ist dieses Rechtsbewußtsein entweder gar nicht, oder
nur in sehr geringem Maße vorhanden. Wer auf sie einwirken will, muß an¬
dere Hebel anwenden, und Napoleon III. versteht sein Volk besser , als der
Minister Louis Philipps, der auch die Rechtsform wahrte, aber durch den In¬
halt, den er ihr gab, die Revolution herbeiführte, und der im gegenwärtigen
Augenblick so ganz in seine Doctrin aufgeht, daß er zur Anknüpfung des
NechtSbodens eine Allianz mit der Legitimität d. h. mit der Priester- und
Adelsherrschaft versucht. — Noch in einer Beziehung steht die Geschichte der
Revolution hinter jenen Vorlesungen zurück. In diesen ist der Ton unbe¬
fangen, natürlich und sachgemäß, weil die Stellung des Lehrers zu Schülern
ihm geläufig ist, während der Geschichtschreiber die Vorsehung fortwährend
eine Rolle spielen läßt, die er vor seinem eignen Verstand und Gewissen kaum
verantworten kann. Uebrigens ist in der zweiten Hälfte die Erzählung aus¬
führlicher und epischer, und die Doctrin drängt sich weniger hervor. Aber
freilich sind auch erst seit der Zeit die Darstellungen von Carlyle und Macau-
lav veröffentlicht, mit denen der französische Geschichtschreiber nicht wetteifern
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In mancher Beziehung eignete sich Guizot vorzüglich zum Geschichtschrei¬
ber einer Revolution, die vornehmlich aus religiösen Motiven beruhte. Wenn
er auch die kirchlichen Interessen aus dem Gebiet des Staats überall den
politischen Rücksichten unterordnet, so war er doch persönlich in seinem Glau¬
ben sehr fest, ja der streng puritanische Anstrich seines Charakters befähigte
ihn, jene zähen Naturen, jene starren und finstern Gemüther zu verstehen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/382>, abgerufen am 23.07.2024.