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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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die Idee der staatlichen nationalen Freiheit, der souveränen Staatseinheit,
wie sie sich aus diesem Absolutismus heraus entwickelte, auch sein Glaubens¬
bekenntniß ist.

Nach Abschluß seiner politischen Thätigkeit in der Februarrevolution nahm
er ein älteres Werk auf, dessen erste Bände 1826 erschienen waren: Die
Geschichte der englischen Revolution, und führte sie von dem Tode
Karls I. erst bis zum Tode Cromwells weiter fort (1853), dann bis zur Restau¬
ration (18SK). Als Einleitung hat er 1830 eine Abhandlung über die Frage
veröffentlicht: Warum ist die englische Revolution gelungen? In dieselbe Reihe
gehört die Abhandlung über die französische Demokratie 1849, die Geschichte
Washingtons, eine Einleitung zu den Schriften dieses Mannes, die er bereits
1839--1840 herausgegeben hatte; eine Biographie Monts und ähnliche kleine
Schriften, in denen wir ihn von einer neuen Seite kennen lernen.

So fest Guizot davon überzeugt ist, das französische Volk habe den Beruf
und die Kraft, an der Spitze der europäischen Civilisation zu stehen, und es
habe insofern vor dem englischen Volk den Vorzug, als sich dieses zu aus¬
schließlich der praktischen, materiellen Richtung hingegeben, so schwebt ihm in
Beziehung aus die politische Entwicklung doch immer die englische Verfassung
als Muster vor. Es ist das seit Montesquieu bei allen Franzosen der Fall,
die sich nicht durch die Leidenschaft hinreißen lassen, in irgend ein Extrem zu
verfallen. Gewiß ist das Streben im Allgemeinen zu billigen, denn über die
Natur jenes "politischen Thiers", wie man zuweilen den Menschen genannt
hat, kann man sich in der Geschichte Englands am deutlichsten unterrichten.
Aber die Franzosen und unter ihnen namentlich die DoctrinärS versallen zu
leicht in den Fehler, von jenem Vorbild eine rein mechanische Anwendung zu
machen, Guizot hat diesen Fehler als Staatsmann, als politischer Schrift¬
steller und als Geschichtschreiber begangen.

Die Geschichte der englischen Revolution ist weit bekannter geworden und
hat den Namen Guizots weit mehr zu Ehren gebracht, als seine Vorlesungen ;
und doch steht sie ihnen unzweifelhaft nach.. Er erzählt äußerst correct, deut¬
lich und übersichtlich, und sein Urtheil ist das eines wohlgesinnten, einsichts¬
vollen Mannes; aber es ist ihm doch nicht gelungen, sich in die Gemüths¬
bewegungen jener Zeit so lebhaft zu versetzen, daß er sie uns mit erleben läßt.
Es geht ihm hier wie manchen Geschichtschreibern deS Mittelalters, die ihren
Quellen die Thatsache genau nacherzählen, aber die Farbe abschwächen. Es
fehlt seiner Phantasie an Wärme. Gemüthsbewegungen, die außer seinem ge¬
wöhnlichen Kreise liegen, weiß er nicht nachzuempfinden. Dadurch kommt in
sein Urtheil über die einzelnen Personen eine leise Nuance von Unwahrheit,
die man im Einzelnen kaum aufspürt, die aber dem ganzen Bild einen frem¬
den Charakter gibt. Sein Verstand überhebt sich zu sehr, er organistrt die That-


die Idee der staatlichen nationalen Freiheit, der souveränen Staatseinheit,
wie sie sich aus diesem Absolutismus heraus entwickelte, auch sein Glaubens¬
bekenntniß ist.

Nach Abschluß seiner politischen Thätigkeit in der Februarrevolution nahm
er ein älteres Werk auf, dessen erste Bände 1826 erschienen waren: Die
Geschichte der englischen Revolution, und führte sie von dem Tode
Karls I. erst bis zum Tode Cromwells weiter fort (1853), dann bis zur Restau¬
ration (18SK). Als Einleitung hat er 1830 eine Abhandlung über die Frage
veröffentlicht: Warum ist die englische Revolution gelungen? In dieselbe Reihe
gehört die Abhandlung über die französische Demokratie 1849, die Geschichte
Washingtons, eine Einleitung zu den Schriften dieses Mannes, die er bereits
1839—1840 herausgegeben hatte; eine Biographie Monts und ähnliche kleine
Schriften, in denen wir ihn von einer neuen Seite kennen lernen.

So fest Guizot davon überzeugt ist, das französische Volk habe den Beruf
und die Kraft, an der Spitze der europäischen Civilisation zu stehen, und es
habe insofern vor dem englischen Volk den Vorzug, als sich dieses zu aus¬
schließlich der praktischen, materiellen Richtung hingegeben, so schwebt ihm in
Beziehung aus die politische Entwicklung doch immer die englische Verfassung
als Muster vor. Es ist das seit Montesquieu bei allen Franzosen der Fall,
die sich nicht durch die Leidenschaft hinreißen lassen, in irgend ein Extrem zu
verfallen. Gewiß ist das Streben im Allgemeinen zu billigen, denn über die
Natur jenes „politischen Thiers", wie man zuweilen den Menschen genannt
hat, kann man sich in der Geschichte Englands am deutlichsten unterrichten.
Aber die Franzosen und unter ihnen namentlich die DoctrinärS versallen zu
leicht in den Fehler, von jenem Vorbild eine rein mechanische Anwendung zu
machen, Guizot hat diesen Fehler als Staatsmann, als politischer Schrift¬
steller und als Geschichtschreiber begangen.

Die Geschichte der englischen Revolution ist weit bekannter geworden und
hat den Namen Guizots weit mehr zu Ehren gebracht, als seine Vorlesungen ;
und doch steht sie ihnen unzweifelhaft nach.. Er erzählt äußerst correct, deut¬
lich und übersichtlich, und sein Urtheil ist das eines wohlgesinnten, einsichts¬
vollen Mannes; aber es ist ihm doch nicht gelungen, sich in die Gemüths¬
bewegungen jener Zeit so lebhaft zu versetzen, daß er sie uns mit erleben läßt.
Es geht ihm hier wie manchen Geschichtschreibern deS Mittelalters, die ihren
Quellen die Thatsache genau nacherzählen, aber die Farbe abschwächen. Es
fehlt seiner Phantasie an Wärme. Gemüthsbewegungen, die außer seinem ge¬
wöhnlichen Kreise liegen, weiß er nicht nachzuempfinden. Dadurch kommt in
sein Urtheil über die einzelnen Personen eine leise Nuance von Unwahrheit,
die man im Einzelnen kaum aufspürt, die aber dem ganzen Bild einen frem¬
den Charakter gibt. Sein Verstand überhebt sich zu sehr, er organistrt die That-


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[0381] die Idee der staatlichen nationalen Freiheit, der souveränen Staatseinheit, wie sie sich aus diesem Absolutismus heraus entwickelte, auch sein Glaubens¬ bekenntniß ist. Nach Abschluß seiner politischen Thätigkeit in der Februarrevolution nahm er ein älteres Werk auf, dessen erste Bände 1826 erschienen waren: Die Geschichte der englischen Revolution, und führte sie von dem Tode Karls I. erst bis zum Tode Cromwells weiter fort (1853), dann bis zur Restau¬ ration (18SK). Als Einleitung hat er 1830 eine Abhandlung über die Frage veröffentlicht: Warum ist die englische Revolution gelungen? In dieselbe Reihe gehört die Abhandlung über die französische Demokratie 1849, die Geschichte Washingtons, eine Einleitung zu den Schriften dieses Mannes, die er bereits 1839—1840 herausgegeben hatte; eine Biographie Monts und ähnliche kleine Schriften, in denen wir ihn von einer neuen Seite kennen lernen. So fest Guizot davon überzeugt ist, das französische Volk habe den Beruf und die Kraft, an der Spitze der europäischen Civilisation zu stehen, und es habe insofern vor dem englischen Volk den Vorzug, als sich dieses zu aus¬ schließlich der praktischen, materiellen Richtung hingegeben, so schwebt ihm in Beziehung aus die politische Entwicklung doch immer die englische Verfassung als Muster vor. Es ist das seit Montesquieu bei allen Franzosen der Fall, die sich nicht durch die Leidenschaft hinreißen lassen, in irgend ein Extrem zu verfallen. Gewiß ist das Streben im Allgemeinen zu billigen, denn über die Natur jenes „politischen Thiers", wie man zuweilen den Menschen genannt hat, kann man sich in der Geschichte Englands am deutlichsten unterrichten. Aber die Franzosen und unter ihnen namentlich die DoctrinärS versallen zu leicht in den Fehler, von jenem Vorbild eine rein mechanische Anwendung zu machen, Guizot hat diesen Fehler als Staatsmann, als politischer Schrift¬ steller und als Geschichtschreiber begangen. Die Geschichte der englischen Revolution ist weit bekannter geworden und hat den Namen Guizots weit mehr zu Ehren gebracht, als seine Vorlesungen ; und doch steht sie ihnen unzweifelhaft nach.. Er erzählt äußerst correct, deut¬ lich und übersichtlich, und sein Urtheil ist das eines wohlgesinnten, einsichts¬ vollen Mannes; aber es ist ihm doch nicht gelungen, sich in die Gemüths¬ bewegungen jener Zeit so lebhaft zu versetzen, daß er sie uns mit erleben läßt. Es geht ihm hier wie manchen Geschichtschreibern deS Mittelalters, die ihren Quellen die Thatsache genau nacherzählen, aber die Farbe abschwächen. Es fehlt seiner Phantasie an Wärme. Gemüthsbewegungen, die außer seinem ge¬ wöhnlichen Kreise liegen, weiß er nicht nachzuempfinden. Dadurch kommt in sein Urtheil über die einzelnen Personen eine leise Nuance von Unwahrheit, die man im Einzelnen kaum aufspürt, die aber dem ganzen Bild einen frem¬ den Charakter gibt. Sein Verstand überhebt sich zu sehr, er organistrt die That-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/381>, abgerufen am 25.08.2024.