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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Diese Art von Dogmatismus ist nun zwar den Franzosen keineswegs etwas
Neues; aber sie sind daran gewöhnt, daß man es ihnen versteckt, daß man
den Anschein der Belehrung vermeidet, und dazu hat sich Guizot mit seiner
strengen Natur nie hergeben mögen.

Das philosophische Glaubensbekenntniß Guizots ist sehr einfach. Er zeigt,
daß die Gegenüberstellung des Thatsächlichen und des Gebankenmäßigen aus
einer Abstraction beruht, daß die allgemeinen Gedanken, die sich in der Ge¬
schichte realisiren, gleichfalls Thatsachen sind, und daß in ihnen das einzige
Interesse liegt, welches den wahrhaft Gebildeten zu der detaillirten Unter¬
suchung der Thatsachen bestimmen kann. Er spricht seinen Glauben an die
Bestimmung der Menschheit aus, und er faßt diese Bestimmung unter den
Begriff der Civilisation zusammen. Die Civilisation hat eine doppelte Rich¬
tung, die sociale und die individuelle. Beide gehen keineswegs immer Hand
in Hand. Der Fortschritt der einen ist oft mit der Verderbniß der andern
verbunden; aber es ist der Glaube des sittlich und geistig Gebildeten, ein
Glaube, den er aus dem gestimmten Gange der Geschichte schöpft, daß beide
Richtungen sich mehr und mehr einander nähern und sich endlich treffen werden.
Es ist das Gesetz der menschlichen Natur, das Gesammtresultat der Geschichte,
der instinctive Glaube deS menschlichen Geschlechts. Guizot hat Recht, den
Ausdruck Glauben zu gebrauchen, da das eracte Wissen zu einer Erkenntniß
nicht ausreicht, die doch nothwendig ist, um der Geschichte überhaupt ein
ernstes Interesse zu widmen. Mit Eifer führt er die Sache der modernen
Bildung im Allgemeinen gegen die Pessimisten, nach deren Auffassung die
Zeiten immer schlechter werden. Wenn auch Doktrinär und in vieler Beziehung
der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts entgegengesetzt, verleugnet er doch
die große Mutter nicht, die sich über die Ungerechtigkeit so vieler ihrer Söhne
zu beklagen hat.

Nach dieser allgemeinen Einleitung vertieft er sich in die Zustände Gal¬
liens im vierten und fünften Jahrhundert. Die bisherigen Geschichtsforscher
waren durchweg in Unklarheit darüber gewesen, welches von den Elementen,
aus denen die französische Nation hervorging, sie an die Spitze stellen sollten,
das wälsche oder das deutsche, und in den meisten Fällen hatte nicht die
historische Kritik, sondern die politische Sympathie den Ausschlag gegeben-
Hier ist nun die Klarheit, die durch den scharfen Blick und die umfassende
Gelehrsamkeit Guizots in das Dunkel dieser labyrinth-löcher Verhältnisse ge¬
bracht wird, ebenso überraschend als bewunderungswürdig.

Guizot beginnt seine Darstellung mit dem allmäligen Verfall deS römischen
Reichs im vierten Jahrhundert. Im Alterthum herrscht überall eine einheitliche
Cultur; das Mittelalter beginnt mit einer allgemeinen Verwirrung, nicht blos
in den Thatsachen , sondern auch in den Ideen: einer Verwirrung, die darauf


Diese Art von Dogmatismus ist nun zwar den Franzosen keineswegs etwas
Neues; aber sie sind daran gewöhnt, daß man es ihnen versteckt, daß man
den Anschein der Belehrung vermeidet, und dazu hat sich Guizot mit seiner
strengen Natur nie hergeben mögen.

Das philosophische Glaubensbekenntniß Guizots ist sehr einfach. Er zeigt,
daß die Gegenüberstellung des Thatsächlichen und des Gebankenmäßigen aus
einer Abstraction beruht, daß die allgemeinen Gedanken, die sich in der Ge¬
schichte realisiren, gleichfalls Thatsachen sind, und daß in ihnen das einzige
Interesse liegt, welches den wahrhaft Gebildeten zu der detaillirten Unter¬
suchung der Thatsachen bestimmen kann. Er spricht seinen Glauben an die
Bestimmung der Menschheit aus, und er faßt diese Bestimmung unter den
Begriff der Civilisation zusammen. Die Civilisation hat eine doppelte Rich¬
tung, die sociale und die individuelle. Beide gehen keineswegs immer Hand
in Hand. Der Fortschritt der einen ist oft mit der Verderbniß der andern
verbunden; aber es ist der Glaube des sittlich und geistig Gebildeten, ein
Glaube, den er aus dem gestimmten Gange der Geschichte schöpft, daß beide
Richtungen sich mehr und mehr einander nähern und sich endlich treffen werden.
Es ist das Gesetz der menschlichen Natur, das Gesammtresultat der Geschichte,
der instinctive Glaube deS menschlichen Geschlechts. Guizot hat Recht, den
Ausdruck Glauben zu gebrauchen, da das eracte Wissen zu einer Erkenntniß
nicht ausreicht, die doch nothwendig ist, um der Geschichte überhaupt ein
ernstes Interesse zu widmen. Mit Eifer führt er die Sache der modernen
Bildung im Allgemeinen gegen die Pessimisten, nach deren Auffassung die
Zeiten immer schlechter werden. Wenn auch Doktrinär und in vieler Beziehung
der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts entgegengesetzt, verleugnet er doch
die große Mutter nicht, die sich über die Ungerechtigkeit so vieler ihrer Söhne
zu beklagen hat.

Nach dieser allgemeinen Einleitung vertieft er sich in die Zustände Gal¬
liens im vierten und fünften Jahrhundert. Die bisherigen Geschichtsforscher
waren durchweg in Unklarheit darüber gewesen, welches von den Elementen,
aus denen die französische Nation hervorging, sie an die Spitze stellen sollten,
das wälsche oder das deutsche, und in den meisten Fällen hatte nicht die
historische Kritik, sondern die politische Sympathie den Ausschlag gegeben-
Hier ist nun die Klarheit, die durch den scharfen Blick und die umfassende
Gelehrsamkeit Guizots in das Dunkel dieser labyrinth-löcher Verhältnisse ge¬
bracht wird, ebenso überraschend als bewunderungswürdig.

Guizot beginnt seine Darstellung mit dem allmäligen Verfall deS römischen
Reichs im vierten Jahrhundert. Im Alterthum herrscht überall eine einheitliche
Cultur; das Mittelalter beginnt mit einer allgemeinen Verwirrung, nicht blos
in den Thatsachen , sondern auch in den Ideen: einer Verwirrung, die darauf


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[0372] Diese Art von Dogmatismus ist nun zwar den Franzosen keineswegs etwas Neues; aber sie sind daran gewöhnt, daß man es ihnen versteckt, daß man den Anschein der Belehrung vermeidet, und dazu hat sich Guizot mit seiner strengen Natur nie hergeben mögen. Das philosophische Glaubensbekenntniß Guizots ist sehr einfach. Er zeigt, daß die Gegenüberstellung des Thatsächlichen und des Gebankenmäßigen aus einer Abstraction beruht, daß die allgemeinen Gedanken, die sich in der Ge¬ schichte realisiren, gleichfalls Thatsachen sind, und daß in ihnen das einzige Interesse liegt, welches den wahrhaft Gebildeten zu der detaillirten Unter¬ suchung der Thatsachen bestimmen kann. Er spricht seinen Glauben an die Bestimmung der Menschheit aus, und er faßt diese Bestimmung unter den Begriff der Civilisation zusammen. Die Civilisation hat eine doppelte Rich¬ tung, die sociale und die individuelle. Beide gehen keineswegs immer Hand in Hand. Der Fortschritt der einen ist oft mit der Verderbniß der andern verbunden; aber es ist der Glaube des sittlich und geistig Gebildeten, ein Glaube, den er aus dem gestimmten Gange der Geschichte schöpft, daß beide Richtungen sich mehr und mehr einander nähern und sich endlich treffen werden. Es ist das Gesetz der menschlichen Natur, das Gesammtresultat der Geschichte, der instinctive Glaube deS menschlichen Geschlechts. Guizot hat Recht, den Ausdruck Glauben zu gebrauchen, da das eracte Wissen zu einer Erkenntniß nicht ausreicht, die doch nothwendig ist, um der Geschichte überhaupt ein ernstes Interesse zu widmen. Mit Eifer führt er die Sache der modernen Bildung im Allgemeinen gegen die Pessimisten, nach deren Auffassung die Zeiten immer schlechter werden. Wenn auch Doktrinär und in vieler Beziehung der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts entgegengesetzt, verleugnet er doch die große Mutter nicht, die sich über die Ungerechtigkeit so vieler ihrer Söhne zu beklagen hat. Nach dieser allgemeinen Einleitung vertieft er sich in die Zustände Gal¬ liens im vierten und fünften Jahrhundert. Die bisherigen Geschichtsforscher waren durchweg in Unklarheit darüber gewesen, welches von den Elementen, aus denen die französische Nation hervorging, sie an die Spitze stellen sollten, das wälsche oder das deutsche, und in den meisten Fällen hatte nicht die historische Kritik, sondern die politische Sympathie den Ausschlag gegeben- Hier ist nun die Klarheit, die durch den scharfen Blick und die umfassende Gelehrsamkeit Guizots in das Dunkel dieser labyrinth-löcher Verhältnisse ge¬ bracht wird, ebenso überraschend als bewunderungswürdig. Guizot beginnt seine Darstellung mit dem allmäligen Verfall deS römischen Reichs im vierten Jahrhundert. Im Alterthum herrscht überall eine einheitliche Cultur; das Mittelalter beginnt mit einer allgemeinen Verwirrung, nicht blos in den Thatsachen , sondern auch in den Ideen: einer Verwirrung, die darauf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/372>, abgerufen am 23.07.2024.