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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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zunächst unsere Aufmerksamkeit richten. Wir haben es mit einem Werk der
strengsten Gelehrsamkeit zu thun, das überall von originellen, zum Theil sehr
bedeutenden Forschungen getragen wird, und das in'ben den Schriften von
Thierry am meisten dazu beigetragen hat, der bisherigen Verwirrung in der
Auffassung der ältesten französischen Geschichte ein Ende zu machen.

Diese Vorlesungen haben ihm den Ruhm verschafft, der freilich von
anderer Seite als ein schwerer Tadel betrachtet wurde, der Begründer der
Philosophischen Schule in Frankreich zu sein. Auf den ersten Blick sehen wir
nun, daß, was wir in Deutschland Philosophie der Geschichte nennen, hier
gar nicht in Frage kommt, und wir sehen es mit einem gewissen Neid, denn
so reich der Schatz tiefer Ideen ist, den wir diesen Irrfahrten verdanken, wie
ja auch die Naturwissenschaft den Alchymisten und Astrologen vieles verdankt,
so wären wir doch auf dem geraden Wege schneller und sicherer ans Ziel ge¬
kommen. In neuester Zeit haben freilich auch die Franzosen uns abgelernt,
wie man die Abstractionen der Metaphysik ins Gebiet der Thatsachen einmischt;
aber die Schriftsteller dieser deutschen Schule sind ziemlich isolirt geblieben.
Guizot will weiter nichts als den innern Zusammenhang der Thatsachen fest¬
stellen, deren Kenntniß er sich auf dem gewöhnlichen Wege der historischen
Forschung angeeignet hat. Freilich erfordert schon das eine Auswahl, die
nicht ausschließlich durch die kritische Methode bedingt ist, eine Verallgemei¬
nerung der einzelnen Erscheinungen, die der Subjectivität einen gewissen
Spielraum verstattet; aber ohne diese Auswahl ist eS ja unmöglich, zu erzählen.
Der Tadel gegen Guizot bezieht sich mehr auf seinen Ton. Alles, was er er¬
zählt, nimmt die Färbung einer nachträglichen Reflexion an. Er verwundert
sich über nichts, er gibt für alles vollwichtige Gründe an, und der Lauf der
Begebenheiten erscheint bei ihm als ein nothwendiger. Ein scharfsinniger Be¬
obachter sagte von ihm: M'it satt ä<z c<z matin, it a l'Sir 6e 1e savoir
als wilde ötvrnilö- Zu Guizots Rechtfertigung muß man folgendes anführen:
er spricht als Lehrer und fordert seine Schüler auf, ihn durch das Studium
der eigentlichen Geschichte zu controliren. Er hat seine Borlesungen nach dem
Stenographen veröffentlicht, es lag das in der praktischen Richtung seines
Geistes. Die eigentlich literarisch-ästhetische, Richtung war ihm fremd; es kam
'hin nur darauf an, das, was er wollte, -- und er wußte immer sehr gut,
was er wollte, in einer scharf ausgeprägten logischen Form'mitzutheilen. An
die künstlerische Durcharbeitung eines Werks hat er nie gedacht, er ging so¬
fort zu einem neuen Unternehmen über. Sein Vortrag ist deutlich und correct,
aber er leidet an einer gewissen Monotonie. Da er stets danach strebt, die
Resultate der Ereignisse zu einem Gedanken abzurunden, und da er diesen
Gedanken doch in der Regel bereits fertig in sich trägt, so wiederholen sich
die Formen und er opfert die Schönheit des Ausdrucks gern der Deutlichkeit.


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zunächst unsere Aufmerksamkeit richten. Wir haben es mit einem Werk der
strengsten Gelehrsamkeit zu thun, das überall von originellen, zum Theil sehr
bedeutenden Forschungen getragen wird, und das in'ben den Schriften von
Thierry am meisten dazu beigetragen hat, der bisherigen Verwirrung in der
Auffassung der ältesten französischen Geschichte ein Ende zu machen.

Diese Vorlesungen haben ihm den Ruhm verschafft, der freilich von
anderer Seite als ein schwerer Tadel betrachtet wurde, der Begründer der
Philosophischen Schule in Frankreich zu sein. Auf den ersten Blick sehen wir
nun, daß, was wir in Deutschland Philosophie der Geschichte nennen, hier
gar nicht in Frage kommt, und wir sehen es mit einem gewissen Neid, denn
so reich der Schatz tiefer Ideen ist, den wir diesen Irrfahrten verdanken, wie
ja auch die Naturwissenschaft den Alchymisten und Astrologen vieles verdankt,
so wären wir doch auf dem geraden Wege schneller und sicherer ans Ziel ge¬
kommen. In neuester Zeit haben freilich auch die Franzosen uns abgelernt,
wie man die Abstractionen der Metaphysik ins Gebiet der Thatsachen einmischt;
aber die Schriftsteller dieser deutschen Schule sind ziemlich isolirt geblieben.
Guizot will weiter nichts als den innern Zusammenhang der Thatsachen fest¬
stellen, deren Kenntniß er sich auf dem gewöhnlichen Wege der historischen
Forschung angeeignet hat. Freilich erfordert schon das eine Auswahl, die
nicht ausschließlich durch die kritische Methode bedingt ist, eine Verallgemei¬
nerung der einzelnen Erscheinungen, die der Subjectivität einen gewissen
Spielraum verstattet; aber ohne diese Auswahl ist eS ja unmöglich, zu erzählen.
Der Tadel gegen Guizot bezieht sich mehr auf seinen Ton. Alles, was er er¬
zählt, nimmt die Färbung einer nachträglichen Reflexion an. Er verwundert
sich über nichts, er gibt für alles vollwichtige Gründe an, und der Lauf der
Begebenheiten erscheint bei ihm als ein nothwendiger. Ein scharfsinniger Be¬
obachter sagte von ihm: M'it satt ä<z c<z matin, it a l'Sir 6e 1e savoir
als wilde ötvrnilö- Zu Guizots Rechtfertigung muß man folgendes anführen:
er spricht als Lehrer und fordert seine Schüler auf, ihn durch das Studium
der eigentlichen Geschichte zu controliren. Er hat seine Borlesungen nach dem
Stenographen veröffentlicht, es lag das in der praktischen Richtung seines
Geistes. Die eigentlich literarisch-ästhetische, Richtung war ihm fremd; es kam
'hin nur darauf an, das, was er wollte, — und er wußte immer sehr gut,
was er wollte, in einer scharf ausgeprägten logischen Form'mitzutheilen. An
die künstlerische Durcharbeitung eines Werks hat er nie gedacht, er ging so¬
fort zu einem neuen Unternehmen über. Sein Vortrag ist deutlich und correct,
aber er leidet an einer gewissen Monotonie. Da er stets danach strebt, die
Resultate der Ereignisse zu einem Gedanken abzurunden, und da er diesen
Gedanken doch in der Regel bereits fertig in sich trägt, so wiederholen sich
die Formen und er opfert die Schönheit des Ausdrucks gern der Deutlichkeit.


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[0371] zunächst unsere Aufmerksamkeit richten. Wir haben es mit einem Werk der strengsten Gelehrsamkeit zu thun, das überall von originellen, zum Theil sehr bedeutenden Forschungen getragen wird, und das in'ben den Schriften von Thierry am meisten dazu beigetragen hat, der bisherigen Verwirrung in der Auffassung der ältesten französischen Geschichte ein Ende zu machen. Diese Vorlesungen haben ihm den Ruhm verschafft, der freilich von anderer Seite als ein schwerer Tadel betrachtet wurde, der Begründer der Philosophischen Schule in Frankreich zu sein. Auf den ersten Blick sehen wir nun, daß, was wir in Deutschland Philosophie der Geschichte nennen, hier gar nicht in Frage kommt, und wir sehen es mit einem gewissen Neid, denn so reich der Schatz tiefer Ideen ist, den wir diesen Irrfahrten verdanken, wie ja auch die Naturwissenschaft den Alchymisten und Astrologen vieles verdankt, so wären wir doch auf dem geraden Wege schneller und sicherer ans Ziel ge¬ kommen. In neuester Zeit haben freilich auch die Franzosen uns abgelernt, wie man die Abstractionen der Metaphysik ins Gebiet der Thatsachen einmischt; aber die Schriftsteller dieser deutschen Schule sind ziemlich isolirt geblieben. Guizot will weiter nichts als den innern Zusammenhang der Thatsachen fest¬ stellen, deren Kenntniß er sich auf dem gewöhnlichen Wege der historischen Forschung angeeignet hat. Freilich erfordert schon das eine Auswahl, die nicht ausschließlich durch die kritische Methode bedingt ist, eine Verallgemei¬ nerung der einzelnen Erscheinungen, die der Subjectivität einen gewissen Spielraum verstattet; aber ohne diese Auswahl ist eS ja unmöglich, zu erzählen. Der Tadel gegen Guizot bezieht sich mehr auf seinen Ton. Alles, was er er¬ zählt, nimmt die Färbung einer nachträglichen Reflexion an. Er verwundert sich über nichts, er gibt für alles vollwichtige Gründe an, und der Lauf der Begebenheiten erscheint bei ihm als ein nothwendiger. Ein scharfsinniger Be¬ obachter sagte von ihm: M'it satt ä<z c<z matin, it a l'Sir 6e 1e savoir als wilde ötvrnilö- Zu Guizots Rechtfertigung muß man folgendes anführen: er spricht als Lehrer und fordert seine Schüler auf, ihn durch das Studium der eigentlichen Geschichte zu controliren. Er hat seine Borlesungen nach dem Stenographen veröffentlicht, es lag das in der praktischen Richtung seines Geistes. Die eigentlich literarisch-ästhetische, Richtung war ihm fremd; es kam 'hin nur darauf an, das, was er wollte, — und er wußte immer sehr gut, was er wollte, in einer scharf ausgeprägten logischen Form'mitzutheilen. An die künstlerische Durcharbeitung eines Werks hat er nie gedacht, er ging so¬ fort zu einem neuen Unternehmen über. Sein Vortrag ist deutlich und correct, aber er leidet an einer gewissen Monotonie. Da er stets danach strebt, die Resultate der Ereignisse zu einem Gedanken abzurunden, und da er diesen Gedanken doch in der Regel bereits fertig in sich trägt, so wiederholen sich die Formen und er opfert die Schönheit des Ausdrucks gern der Deutlichkeit. 46*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/371>, abgerufen am 23.07.2024.