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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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lingischen Helden und in England die Geschichte von der Tafelrunde, sind im
skandinavischen Norden die Wolsungensage und in Deutschland die Nibelungen
erwachsen. Auch hier hat man versucht, aus Siegfried und Dietrich von
Bern historische Personen zu machen, aber der große Kenner des deutschen
Alterthums, auf den sich Grote hier beruft, Jacob Grimm, hat in seiner
Mythologie ihren rein mythischen Charakter nachgewiesen. Doch ebensowenig
wie hier die richtige Ansicht allgemein anerkannt ist, hat sie auf andern Ge¬
bieten der Sage sich allgemeine Geltung verschaffen können; so z. B. kommen
unsre Historiker immer von neuem in Versuchung, die Epen Ferdusis als
Quellen der ältesten persischen Geschichte zu behandeln. Diese Mythen¬
forscher, die sich von der halbhistorischen Theorie nicht losmachen können,
sind also nicht viel strengere Kritiker, als die gegenwärtigen Perser, von denen der
geistvolle Verfasser des Hadfchi-Baba, Morier, mittheilt, daß sie das Schah-
nameh für ihr ältestes Geschichtsbuch halten.

Der geistige Standpunkt des Publicums der Sagenpoeste war im Ganzen
zwar im Mittelalter derselbe wie im griechischen Alterthum; auf beiden Sei¬
ten dasselbe lebhafte Verlangen nach Erzählungen, die den allgemein verbrei¬
teten Gefühlen entsprechen, und dieselbe Abneigung und Unfähigkeit ihre
Wahrheit zu prüfen. Aber für die griechische Sage waren die Hörer ungleich
günstiger zum unbedingten Glauben disponirt. Sie war bis zum sechsten
Jahrhundert vor Christus die einzige geistige Nahrung, die ihnen geboten
ward: es gab keine Prosa, keine Geschichte, keine Philosophie. Im Mittel¬
alter waren wenigstens die Anfänge von allem diesem vorhanden, ein Theil
der Gesellschaft hatte eine Art von wissenschaftlicher Bildung und folglich eine
Art von Befähigung zur Kritik. Außerdem war im Mittelalter die Epik, ob¬
gleich mit religiösen Ideen erfüllt, doch nicht gradezu mit der Religion ver¬
wachsen und fand nicht immer bei der Geistlichkeit Gunst; während die Heroen
der griechischen Epik nicht nur auf tausend Arten mit der bestehenden Ver¬
ehrung, den Gebräuchen und heiligen Orten verbunden waren, sondern Homer
und Hestod sogar für die Begründer der griechischen Theologie galten. Die
griechische Sagenpoeste war also von störenden Einflüssen freier und mit der
Denk- und Gefühlsweise des Publicums in innigerem Einklang als die mittel¬
alterliche. Wenn diese trotzdem bis zu einem so hohen- Grade Glauben fand,
daß die höchste Autorität der Christenheit TurpinS Chronik für eine geschicht¬
liche Quelle erklärte, wie völlig und unbedingt muß dann im Zeitalter des
epischen Gesanges der Glaube der Griechen an "die ruhmvollen Thaten früherer
Männer" gewesen sein!

Diese Mittheilungen werden hoffentlich hinreichen, um von Grotes Be¬
handlung der griechischen Mythologie einen Begriff zu geben. Wir enthalten
uns weiterer Bemerkungen; den wen diese Proben nicht von ihrer Tüchtigkeit


lingischen Helden und in England die Geschichte von der Tafelrunde, sind im
skandinavischen Norden die Wolsungensage und in Deutschland die Nibelungen
erwachsen. Auch hier hat man versucht, aus Siegfried und Dietrich von
Bern historische Personen zu machen, aber der große Kenner des deutschen
Alterthums, auf den sich Grote hier beruft, Jacob Grimm, hat in seiner
Mythologie ihren rein mythischen Charakter nachgewiesen. Doch ebensowenig
wie hier die richtige Ansicht allgemein anerkannt ist, hat sie auf andern Ge¬
bieten der Sage sich allgemeine Geltung verschaffen können; so z. B. kommen
unsre Historiker immer von neuem in Versuchung, die Epen Ferdusis als
Quellen der ältesten persischen Geschichte zu behandeln. Diese Mythen¬
forscher, die sich von der halbhistorischen Theorie nicht losmachen können,
sind also nicht viel strengere Kritiker, als die gegenwärtigen Perser, von denen der
geistvolle Verfasser des Hadfchi-Baba, Morier, mittheilt, daß sie das Schah-
nameh für ihr ältestes Geschichtsbuch halten.

Der geistige Standpunkt des Publicums der Sagenpoeste war im Ganzen
zwar im Mittelalter derselbe wie im griechischen Alterthum; auf beiden Sei¬
ten dasselbe lebhafte Verlangen nach Erzählungen, die den allgemein verbrei¬
teten Gefühlen entsprechen, und dieselbe Abneigung und Unfähigkeit ihre
Wahrheit zu prüfen. Aber für die griechische Sage waren die Hörer ungleich
günstiger zum unbedingten Glauben disponirt. Sie war bis zum sechsten
Jahrhundert vor Christus die einzige geistige Nahrung, die ihnen geboten
ward: es gab keine Prosa, keine Geschichte, keine Philosophie. Im Mittel¬
alter waren wenigstens die Anfänge von allem diesem vorhanden, ein Theil
der Gesellschaft hatte eine Art von wissenschaftlicher Bildung und folglich eine
Art von Befähigung zur Kritik. Außerdem war im Mittelalter die Epik, ob¬
gleich mit religiösen Ideen erfüllt, doch nicht gradezu mit der Religion ver¬
wachsen und fand nicht immer bei der Geistlichkeit Gunst; während die Heroen
der griechischen Epik nicht nur auf tausend Arten mit der bestehenden Ver¬
ehrung, den Gebräuchen und heiligen Orten verbunden waren, sondern Homer
und Hestod sogar für die Begründer der griechischen Theologie galten. Die
griechische Sagenpoeste war also von störenden Einflüssen freier und mit der
Denk- und Gefühlsweise des Publicums in innigerem Einklang als die mittel¬
alterliche. Wenn diese trotzdem bis zu einem so hohen- Grade Glauben fand,
daß die höchste Autorität der Christenheit TurpinS Chronik für eine geschicht¬
liche Quelle erklärte, wie völlig und unbedingt muß dann im Zeitalter des
epischen Gesanges der Glaube der Griechen an „die ruhmvollen Thaten früherer
Männer" gewesen sein!

Diese Mittheilungen werden hoffentlich hinreichen, um von Grotes Be¬
handlung der griechischen Mythologie einen Begriff zu geben. Wir enthalten
uns weiterer Bemerkungen; den wen diese Proben nicht von ihrer Tüchtigkeit


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[0302] lingischen Helden und in England die Geschichte von der Tafelrunde, sind im skandinavischen Norden die Wolsungensage und in Deutschland die Nibelungen erwachsen. Auch hier hat man versucht, aus Siegfried und Dietrich von Bern historische Personen zu machen, aber der große Kenner des deutschen Alterthums, auf den sich Grote hier beruft, Jacob Grimm, hat in seiner Mythologie ihren rein mythischen Charakter nachgewiesen. Doch ebensowenig wie hier die richtige Ansicht allgemein anerkannt ist, hat sie auf andern Ge¬ bieten der Sage sich allgemeine Geltung verschaffen können; so z. B. kommen unsre Historiker immer von neuem in Versuchung, die Epen Ferdusis als Quellen der ältesten persischen Geschichte zu behandeln. Diese Mythen¬ forscher, die sich von der halbhistorischen Theorie nicht losmachen können, sind also nicht viel strengere Kritiker, als die gegenwärtigen Perser, von denen der geistvolle Verfasser des Hadfchi-Baba, Morier, mittheilt, daß sie das Schah- nameh für ihr ältestes Geschichtsbuch halten. Der geistige Standpunkt des Publicums der Sagenpoeste war im Ganzen zwar im Mittelalter derselbe wie im griechischen Alterthum; auf beiden Sei¬ ten dasselbe lebhafte Verlangen nach Erzählungen, die den allgemein verbrei¬ teten Gefühlen entsprechen, und dieselbe Abneigung und Unfähigkeit ihre Wahrheit zu prüfen. Aber für die griechische Sage waren die Hörer ungleich günstiger zum unbedingten Glauben disponirt. Sie war bis zum sechsten Jahrhundert vor Christus die einzige geistige Nahrung, die ihnen geboten ward: es gab keine Prosa, keine Geschichte, keine Philosophie. Im Mittel¬ alter waren wenigstens die Anfänge von allem diesem vorhanden, ein Theil der Gesellschaft hatte eine Art von wissenschaftlicher Bildung und folglich eine Art von Befähigung zur Kritik. Außerdem war im Mittelalter die Epik, ob¬ gleich mit religiösen Ideen erfüllt, doch nicht gradezu mit der Religion ver¬ wachsen und fand nicht immer bei der Geistlichkeit Gunst; während die Heroen der griechischen Epik nicht nur auf tausend Arten mit der bestehenden Ver¬ ehrung, den Gebräuchen und heiligen Orten verbunden waren, sondern Homer und Hestod sogar für die Begründer der griechischen Theologie galten. Die griechische Sagenpoeste war also von störenden Einflüssen freier und mit der Denk- und Gefühlsweise des Publicums in innigerem Einklang als die mittel¬ alterliche. Wenn diese trotzdem bis zu einem so hohen- Grade Glauben fand, daß die höchste Autorität der Christenheit TurpinS Chronik für eine geschicht¬ liche Quelle erklärte, wie völlig und unbedingt muß dann im Zeitalter des epischen Gesanges der Glaube der Griechen an „die ruhmvollen Thaten früherer Männer" gewesen sein! Diese Mittheilungen werden hoffentlich hinreichen, um von Grotes Be¬ handlung der griechischen Mythologie einen Begriff zu geben. Wir enthalten uns weiterer Bemerkungen; den wen diese Proben nicht von ihrer Tüchtigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/302>, abgerufen am 22.07.2024.