Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zender Auswahl. Zum Beispiel: ES gibt keine öffentliche Meinung in Eng¬
land; und wenn es eine gibt, wird sie von der Regierung fabricirt. DaS ist
ziemlich analog der Behauptung jenes Jrländers, der angeklagt war, seinem
Nachbar einen geborgten Krug nicht zurückgegeben zu haben. -- Den Krug --
sagte Paddy vor dem Richter aus -- den Krug, von dem die Rede ist, hab
ich mein Lebtag nicht geborgt; und dann hab ich ihn dem O'Meagher längst
zurückgegeben; und vor allem kann ich darauf schwören, daß der O'Meagher
gar nie einen solchen Krug besessen hat.

Ein anderes Dogma der Schule ist: Der civilisirende Einfluß Englands
ist leere Phrase; überhaupt haben wir Bürger dieses Jahrhunderts kein Recht,
von gesteigerter Civilisation zu sprechen. -- Wir unserseits nennen eS einen
Fortschritt, wenn England seine Eisenbahnen und Geschwornengerichte nach
Indien, dem Cap und Australien verpflanzt, wenn eS in Hindostan die Tortur
abschafft, wenn es zu Hause seine Schulen verbessert; und eS möge uns ge
stattet sein, bescheidenes Vergnügen daran zu finden, daß in unserem Jahr¬
hunderte dem Handel mit afrikanischen Menschenfleisch gesteuert wird, daß wir
keine runzligen Weiber mehr als Heren rösten, daß die indischen Witwen
nicht mehr die barbarische Verpflichtung haben sollen, sich lebendig zu verbren¬
nen, daß unsere verachtete Civilisation selbst den Krieg menschlicher gemacht
hat, und daß man den Schriftstellern, die gegen Kirche und Staat sprechen,
nicht mehr die Ohren abschneidet, von anderen neuen Annehmlichkeiten des
irdischen Lebens,' als da sind: Telegraphen, Photographien, Bibliotheken,
Kunstsammlungen u. s. w. gar nicht zu reden. ES muß freilich zugegeben
werden, daß noch wacker gestohlen, geraubt und geprügelt wird, daß zur Zeit
der vierzehnten ägyptischen Dynastie kein einziger Eisenbahnsecretär Actien gefälscht,
daß Mutter Eva keine falschen Diamanten trug, sondern allein wegen eines
einfachen Feigenblattes in den Ruf kam, eine putzsüchtige Kokette zu sein, daß
unter Salmanassar keine Bestechung bei Parlamentswahlen geduldet wurde,
und daß ASpasta möglicherweise reizender war als die Fürstin Lieven. Doch
was nützt das Bedauern? Wir können mit dem besten Willen nicht antik
werden. Die ,,Verrostung" die man uns vorwirft, wird vielleicht nach tausend
und abertausend Jahren von unseren noch tiefer gesunkenen Enkeln als asruFv
nobilis geschätzt. Vor den Lobrednern alter Zeiten warnt schon Horaz, weil
sie langweilig und unersprießlich sind.

Wenn Beweise so wohlfeil wären wie Behauptungen, stünde eS mit der
Wahrheit wahrscheinlich besser in der Welt. Es schreibt sich so leicht in die
Welt hinein: "Die Times hat die Weisung erhalten", oder "Daily News
sind von der Negierung ausschließlich begünstigt worden um u. s. w.", oder
Chronicle hat Ordre", oder gar Punch hat "Ordre" erhalten, dieses oder je¬
nes zu schreiben. ES ist kaum ein englisches Journal, von dem jene Ge-


zender Auswahl. Zum Beispiel: ES gibt keine öffentliche Meinung in Eng¬
land; und wenn es eine gibt, wird sie von der Regierung fabricirt. DaS ist
ziemlich analog der Behauptung jenes Jrländers, der angeklagt war, seinem
Nachbar einen geborgten Krug nicht zurückgegeben zu haben. — Den Krug —
sagte Paddy vor dem Richter aus — den Krug, von dem die Rede ist, hab
ich mein Lebtag nicht geborgt; und dann hab ich ihn dem O'Meagher längst
zurückgegeben; und vor allem kann ich darauf schwören, daß der O'Meagher
gar nie einen solchen Krug besessen hat.

Ein anderes Dogma der Schule ist: Der civilisirende Einfluß Englands
ist leere Phrase; überhaupt haben wir Bürger dieses Jahrhunderts kein Recht,
von gesteigerter Civilisation zu sprechen. — Wir unserseits nennen eS einen
Fortschritt, wenn England seine Eisenbahnen und Geschwornengerichte nach
Indien, dem Cap und Australien verpflanzt, wenn eS in Hindostan die Tortur
abschafft, wenn es zu Hause seine Schulen verbessert; und eS möge uns ge
stattet sein, bescheidenes Vergnügen daran zu finden, daß in unserem Jahr¬
hunderte dem Handel mit afrikanischen Menschenfleisch gesteuert wird, daß wir
keine runzligen Weiber mehr als Heren rösten, daß die indischen Witwen
nicht mehr die barbarische Verpflichtung haben sollen, sich lebendig zu verbren¬
nen, daß unsere verachtete Civilisation selbst den Krieg menschlicher gemacht
hat, und daß man den Schriftstellern, die gegen Kirche und Staat sprechen,
nicht mehr die Ohren abschneidet, von anderen neuen Annehmlichkeiten des
irdischen Lebens,' als da sind: Telegraphen, Photographien, Bibliotheken,
Kunstsammlungen u. s. w. gar nicht zu reden. ES muß freilich zugegeben
werden, daß noch wacker gestohlen, geraubt und geprügelt wird, daß zur Zeit
der vierzehnten ägyptischen Dynastie kein einziger Eisenbahnsecretär Actien gefälscht,
daß Mutter Eva keine falschen Diamanten trug, sondern allein wegen eines
einfachen Feigenblattes in den Ruf kam, eine putzsüchtige Kokette zu sein, daß
unter Salmanassar keine Bestechung bei Parlamentswahlen geduldet wurde,
und daß ASpasta möglicherweise reizender war als die Fürstin Lieven. Doch
was nützt das Bedauern? Wir können mit dem besten Willen nicht antik
werden. Die ,,Verrostung" die man uns vorwirft, wird vielleicht nach tausend
und abertausend Jahren von unseren noch tiefer gesunkenen Enkeln als asruFv
nobilis geschätzt. Vor den Lobrednern alter Zeiten warnt schon Horaz, weil
sie langweilig und unersprießlich sind.

Wenn Beweise so wohlfeil wären wie Behauptungen, stünde eS mit der
Wahrheit wahrscheinlich besser in der Welt. Es schreibt sich so leicht in die
Welt hinein: „Die Times hat die Weisung erhalten", oder „Daily News
sind von der Negierung ausschließlich begünstigt worden um u. s. w.", oder
Chronicle hat Ordre", oder gar Punch hat „Ordre" erhalten, dieses oder je¬
nes zu schreiben. ES ist kaum ein englisches Journal, von dem jene Ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103163"/>
          <p xml:id="ID_85" prev="#ID_84"> zender Auswahl. Zum Beispiel: ES gibt keine öffentliche Meinung in Eng¬<lb/>
land; und wenn es eine gibt, wird sie von der Regierung fabricirt. DaS ist<lb/>
ziemlich analog der Behauptung jenes Jrländers, der angeklagt war, seinem<lb/>
Nachbar einen geborgten Krug nicht zurückgegeben zu haben. &#x2014; Den Krug &#x2014;<lb/>
sagte Paddy vor dem Richter aus &#x2014; den Krug, von dem die Rede ist, hab<lb/>
ich mein Lebtag nicht geborgt; und dann hab ich ihn dem O'Meagher längst<lb/>
zurückgegeben; und vor allem kann ich darauf schwören, daß der O'Meagher<lb/>
gar nie einen solchen Krug besessen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_86"> Ein anderes Dogma der Schule ist: Der civilisirende Einfluß Englands<lb/>
ist leere Phrase; überhaupt haben wir Bürger dieses Jahrhunderts kein Recht,<lb/>
von gesteigerter Civilisation zu sprechen. &#x2014; Wir unserseits nennen eS einen<lb/>
Fortschritt, wenn England seine Eisenbahnen und Geschwornengerichte nach<lb/>
Indien, dem Cap und Australien verpflanzt, wenn eS in Hindostan die Tortur<lb/>
abschafft, wenn es zu Hause seine Schulen verbessert; und eS möge uns ge<lb/>
stattet sein, bescheidenes Vergnügen daran zu finden, daß in unserem Jahr¬<lb/>
hunderte dem Handel mit afrikanischen Menschenfleisch gesteuert wird, daß wir<lb/>
keine runzligen Weiber mehr als Heren rösten, daß die indischen Witwen<lb/>
nicht mehr die barbarische Verpflichtung haben sollen, sich lebendig zu verbren¬<lb/>
nen, daß unsere verachtete Civilisation selbst den Krieg menschlicher gemacht<lb/>
hat, und daß man den Schriftstellern, die gegen Kirche und Staat sprechen,<lb/>
nicht mehr die Ohren abschneidet, von anderen neuen Annehmlichkeiten des<lb/>
irdischen Lebens,' als da sind: Telegraphen, Photographien, Bibliotheken,<lb/>
Kunstsammlungen u. s. w. gar nicht zu reden. ES muß freilich zugegeben<lb/>
werden, daß noch wacker gestohlen, geraubt und geprügelt wird, daß zur Zeit<lb/>
der vierzehnten ägyptischen Dynastie kein einziger Eisenbahnsecretär Actien gefälscht,<lb/>
daß Mutter Eva keine falschen Diamanten trug, sondern allein wegen eines<lb/>
einfachen Feigenblattes in den Ruf kam, eine putzsüchtige Kokette zu sein, daß<lb/>
unter Salmanassar keine Bestechung bei Parlamentswahlen geduldet wurde,<lb/>
und daß ASpasta möglicherweise reizender war als die Fürstin Lieven. Doch<lb/>
was nützt das Bedauern? Wir können mit dem besten Willen nicht antik<lb/>
werden. Die ,,Verrostung" die man uns vorwirft, wird vielleicht nach tausend<lb/>
und abertausend Jahren von unseren noch tiefer gesunkenen Enkeln als asruFv<lb/>
nobilis geschätzt. Vor den Lobrednern alter Zeiten warnt schon Horaz, weil<lb/>
sie langweilig und unersprießlich sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_87" next="#ID_88"> Wenn Beweise so wohlfeil wären wie Behauptungen, stünde eS mit der<lb/>
Wahrheit wahrscheinlich besser in der Welt. Es schreibt sich so leicht in die<lb/>
Welt hinein: &#x201E;Die Times hat die Weisung erhalten", oder &#x201E;Daily News<lb/>
sind von der Negierung ausschließlich begünstigt worden um u. s. w.", oder<lb/>
Chronicle hat Ordre", oder gar Punch hat &#x201E;Ordre" erhalten, dieses oder je¬<lb/>
nes zu schreiben. ES ist kaum ein englisches Journal, von dem jene Ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] zender Auswahl. Zum Beispiel: ES gibt keine öffentliche Meinung in Eng¬ land; und wenn es eine gibt, wird sie von der Regierung fabricirt. DaS ist ziemlich analog der Behauptung jenes Jrländers, der angeklagt war, seinem Nachbar einen geborgten Krug nicht zurückgegeben zu haben. — Den Krug — sagte Paddy vor dem Richter aus — den Krug, von dem die Rede ist, hab ich mein Lebtag nicht geborgt; und dann hab ich ihn dem O'Meagher längst zurückgegeben; und vor allem kann ich darauf schwören, daß der O'Meagher gar nie einen solchen Krug besessen hat. Ein anderes Dogma der Schule ist: Der civilisirende Einfluß Englands ist leere Phrase; überhaupt haben wir Bürger dieses Jahrhunderts kein Recht, von gesteigerter Civilisation zu sprechen. — Wir unserseits nennen eS einen Fortschritt, wenn England seine Eisenbahnen und Geschwornengerichte nach Indien, dem Cap und Australien verpflanzt, wenn eS in Hindostan die Tortur abschafft, wenn es zu Hause seine Schulen verbessert; und eS möge uns ge stattet sein, bescheidenes Vergnügen daran zu finden, daß in unserem Jahr¬ hunderte dem Handel mit afrikanischen Menschenfleisch gesteuert wird, daß wir keine runzligen Weiber mehr als Heren rösten, daß die indischen Witwen nicht mehr die barbarische Verpflichtung haben sollen, sich lebendig zu verbren¬ nen, daß unsere verachtete Civilisation selbst den Krieg menschlicher gemacht hat, und daß man den Schriftstellern, die gegen Kirche und Staat sprechen, nicht mehr die Ohren abschneidet, von anderen neuen Annehmlichkeiten des irdischen Lebens,' als da sind: Telegraphen, Photographien, Bibliotheken, Kunstsammlungen u. s. w. gar nicht zu reden. ES muß freilich zugegeben werden, daß noch wacker gestohlen, geraubt und geprügelt wird, daß zur Zeit der vierzehnten ägyptischen Dynastie kein einziger Eisenbahnsecretär Actien gefälscht, daß Mutter Eva keine falschen Diamanten trug, sondern allein wegen eines einfachen Feigenblattes in den Ruf kam, eine putzsüchtige Kokette zu sein, daß unter Salmanassar keine Bestechung bei Parlamentswahlen geduldet wurde, und daß ASpasta möglicherweise reizender war als die Fürstin Lieven. Doch was nützt das Bedauern? Wir können mit dem besten Willen nicht antik werden. Die ,,Verrostung" die man uns vorwirft, wird vielleicht nach tausend und abertausend Jahren von unseren noch tiefer gesunkenen Enkeln als asruFv nobilis geschätzt. Vor den Lobrednern alter Zeiten warnt schon Horaz, weil sie langweilig und unersprießlich sind. Wenn Beweise so wohlfeil wären wie Behauptungen, stünde eS mit der Wahrheit wahrscheinlich besser in der Welt. Es schreibt sich so leicht in die Welt hinein: „Die Times hat die Weisung erhalten", oder „Daily News sind von der Negierung ausschließlich begünstigt worden um u. s. w.", oder Chronicle hat Ordre", oder gar Punch hat „Ordre" erhalten, dieses oder je¬ nes zu schreiben. ES ist kaum ein englisches Journal, von dem jene Ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/30>, abgerufen am 22.07.2024.