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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Gründe, welche die Abwendung zur Antike wol erklären, aber freilich noch
nicht rechtfertigen.

Zunächst widerstreben die antiken Stoffe, wenn man sie so auffaßt, wie
sie aufgefaßt werden müssen, um auf unserm Theater zu wirken, grade dem
Zweck, den die neue Schule sich setzt, der Vereinfachung der Mittel. Corneille
und Racine nahmen es mit ihren antiken Stoffen nicht so genau, sie idea-
listrten sie nach dem Vorbild von Versailles, und wurden dazu nicht blos durch
die unvollkommene historische Bildung ihres Publicums berechtigt, das sich
wenig darum kümmerte, wie man zu den Zeiten des Perikles und deS Alex¬
ander empfunden habe, sondern durch den Geist der französischen Poesie über¬
haupt, die niemals darauf ausgegangen ist, Zustände zu charakterisieren, son¬
dern die nur Leidenschaften und Actionen ausgemalt hat. Wenn die Dichter
dem Publicum eine starke, spannende Action vorführten, so fragte dieses nicht
danach, ob sie richtig oder unrichtig motivirt wäre. Bei uns ist daS anders.
Wir verlangen von unsern Dichtern eine scharfe Charakteristik Und eine be¬
deutende, überzeugende Motivirung. Nun sind aber die Sagen und Geschichten
deS Alterthums von einem sittlichen Geist ausgegangen und eingegeben, der
von dem unsrigen himmelweit abweicht. In der Form der Erzählung lassen
wir uns auch daS Seltsame gefallen, auf dem Theater aber wollen wir die
uns fremde und seltsame Empfindung und Handlung gründlich motivirt sehen.
Das kann nur durch zwei Mittel geschehen, entweder durch ängstliches psy¬
chologisches Raffinement, ein Mittel, durch welches Hebbel zum Theil sein
großes Talent ruinirt hat, oder durch Anwendung der modernen Geschichts¬
philosophie, indem wir unser Bewußtsein über die historische Bedeutung der
Helden auf ihre eigne Empfindung übertragen. Dieses Mittel hat Herr Maer-
cker angewandt. Er läßt seine Helden und ihre Begleiter nicht so reden, wie
sie etwa in ihrer Zeit geredet haben mögen, sondern wie der Schüler Hegels
in ihre Seele hinein empfindet. Durch dies Uebergewicht der Reflerion wird
nicht blos die Naturwahrheit der Charakteristik beeinträchtigt, sondern auch
der Hauptzweck des Dichters, die sittliche Erregung. Um auf seine Art Schuld
und Schicksal miteinander zu verketten, hat der Dichter eine Reihe von Zügen
erfunden, die weder zu unsern Kenntnissen stimmen, noch in den Zusammen¬
hang der übrigen Handlung gehören, und die uns völlig kalt lassen. Wenn
sich König Philipp für einen Gott ausgibt, und diese Schuld dadurch führt,
daß der Dolch eines Meuchelmörders ihn trifft, wenn er dann als Geist
seinem Sohne erscheint, um ihn vor einem ähnlichen Frevel zu warnen, so
ist das sür uns ein leeres Schattenspiel, dem wir vielleicht mit Neugierde,
aber nicht mit innerer Theilnahme zusehen; und dazwischen schmecken die Re¬
flexionen deS Helden und seiner Untergebenen so sehr nach dem modernen
Bewußtsein, daß man auch dadurch in seiner Andacht gestört wird. So erregen


Gründe, welche die Abwendung zur Antike wol erklären, aber freilich noch
nicht rechtfertigen.

Zunächst widerstreben die antiken Stoffe, wenn man sie so auffaßt, wie
sie aufgefaßt werden müssen, um auf unserm Theater zu wirken, grade dem
Zweck, den die neue Schule sich setzt, der Vereinfachung der Mittel. Corneille
und Racine nahmen es mit ihren antiken Stoffen nicht so genau, sie idea-
listrten sie nach dem Vorbild von Versailles, und wurden dazu nicht blos durch
die unvollkommene historische Bildung ihres Publicums berechtigt, das sich
wenig darum kümmerte, wie man zu den Zeiten des Perikles und deS Alex¬
ander empfunden habe, sondern durch den Geist der französischen Poesie über¬
haupt, die niemals darauf ausgegangen ist, Zustände zu charakterisieren, son¬
dern die nur Leidenschaften und Actionen ausgemalt hat. Wenn die Dichter
dem Publicum eine starke, spannende Action vorführten, so fragte dieses nicht
danach, ob sie richtig oder unrichtig motivirt wäre. Bei uns ist daS anders.
Wir verlangen von unsern Dichtern eine scharfe Charakteristik Und eine be¬
deutende, überzeugende Motivirung. Nun sind aber die Sagen und Geschichten
deS Alterthums von einem sittlichen Geist ausgegangen und eingegeben, der
von dem unsrigen himmelweit abweicht. In der Form der Erzählung lassen
wir uns auch daS Seltsame gefallen, auf dem Theater aber wollen wir die
uns fremde und seltsame Empfindung und Handlung gründlich motivirt sehen.
Das kann nur durch zwei Mittel geschehen, entweder durch ängstliches psy¬
chologisches Raffinement, ein Mittel, durch welches Hebbel zum Theil sein
großes Talent ruinirt hat, oder durch Anwendung der modernen Geschichts¬
philosophie, indem wir unser Bewußtsein über die historische Bedeutung der
Helden auf ihre eigne Empfindung übertragen. Dieses Mittel hat Herr Maer-
cker angewandt. Er läßt seine Helden und ihre Begleiter nicht so reden, wie
sie etwa in ihrer Zeit geredet haben mögen, sondern wie der Schüler Hegels
in ihre Seele hinein empfindet. Durch dies Uebergewicht der Reflerion wird
nicht blos die Naturwahrheit der Charakteristik beeinträchtigt, sondern auch
der Hauptzweck des Dichters, die sittliche Erregung. Um auf seine Art Schuld
und Schicksal miteinander zu verketten, hat der Dichter eine Reihe von Zügen
erfunden, die weder zu unsern Kenntnissen stimmen, noch in den Zusammen¬
hang der übrigen Handlung gehören, und die uns völlig kalt lassen. Wenn
sich König Philipp für einen Gott ausgibt, und diese Schuld dadurch führt,
daß der Dolch eines Meuchelmörders ihn trifft, wenn er dann als Geist
seinem Sohne erscheint, um ihn vor einem ähnlichen Frevel zu warnen, so
ist das sür uns ein leeres Schattenspiel, dem wir vielleicht mit Neugierde,
aber nicht mit innerer Theilnahme zusehen; und dazwischen schmecken die Re¬
flexionen deS Helden und seiner Untergebenen so sehr nach dem modernen
Bewußtsein, daß man auch dadurch in seiner Andacht gestört wird. So erregen


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[0292] Gründe, welche die Abwendung zur Antike wol erklären, aber freilich noch nicht rechtfertigen. Zunächst widerstreben die antiken Stoffe, wenn man sie so auffaßt, wie sie aufgefaßt werden müssen, um auf unserm Theater zu wirken, grade dem Zweck, den die neue Schule sich setzt, der Vereinfachung der Mittel. Corneille und Racine nahmen es mit ihren antiken Stoffen nicht so genau, sie idea- listrten sie nach dem Vorbild von Versailles, und wurden dazu nicht blos durch die unvollkommene historische Bildung ihres Publicums berechtigt, das sich wenig darum kümmerte, wie man zu den Zeiten des Perikles und deS Alex¬ ander empfunden habe, sondern durch den Geist der französischen Poesie über¬ haupt, die niemals darauf ausgegangen ist, Zustände zu charakterisieren, son¬ dern die nur Leidenschaften und Actionen ausgemalt hat. Wenn die Dichter dem Publicum eine starke, spannende Action vorführten, so fragte dieses nicht danach, ob sie richtig oder unrichtig motivirt wäre. Bei uns ist daS anders. Wir verlangen von unsern Dichtern eine scharfe Charakteristik Und eine be¬ deutende, überzeugende Motivirung. Nun sind aber die Sagen und Geschichten deS Alterthums von einem sittlichen Geist ausgegangen und eingegeben, der von dem unsrigen himmelweit abweicht. In der Form der Erzählung lassen wir uns auch daS Seltsame gefallen, auf dem Theater aber wollen wir die uns fremde und seltsame Empfindung und Handlung gründlich motivirt sehen. Das kann nur durch zwei Mittel geschehen, entweder durch ängstliches psy¬ chologisches Raffinement, ein Mittel, durch welches Hebbel zum Theil sein großes Talent ruinirt hat, oder durch Anwendung der modernen Geschichts¬ philosophie, indem wir unser Bewußtsein über die historische Bedeutung der Helden auf ihre eigne Empfindung übertragen. Dieses Mittel hat Herr Maer- cker angewandt. Er läßt seine Helden und ihre Begleiter nicht so reden, wie sie etwa in ihrer Zeit geredet haben mögen, sondern wie der Schüler Hegels in ihre Seele hinein empfindet. Durch dies Uebergewicht der Reflerion wird nicht blos die Naturwahrheit der Charakteristik beeinträchtigt, sondern auch der Hauptzweck des Dichters, die sittliche Erregung. Um auf seine Art Schuld und Schicksal miteinander zu verketten, hat der Dichter eine Reihe von Zügen erfunden, die weder zu unsern Kenntnissen stimmen, noch in den Zusammen¬ hang der übrigen Handlung gehören, und die uns völlig kalt lassen. Wenn sich König Philipp für einen Gott ausgibt, und diese Schuld dadurch führt, daß der Dolch eines Meuchelmörders ihn trifft, wenn er dann als Geist seinem Sohne erscheint, um ihn vor einem ähnlichen Frevel zu warnen, so ist das sür uns ein leeres Schattenspiel, dem wir vielleicht mit Neugierde, aber nicht mit innerer Theilnahme zusehen; und dazwischen schmecken die Re¬ flexionen deS Helden und seiner Untergebenen so sehr nach dem modernen Bewußtsein, daß man auch dadurch in seiner Andacht gestört wird. So erregen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/292>, abgerufen am 23.07.2024.