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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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wechseln, daß man Personen zum Behuf einer einzelnen Scene einführen, daß
man die Handlung beliebig retardiren dürfe. Dann aber kamen die romanti¬
schen Kritiker und suchten nachzuweisen, daß in Shakespeare jede Scene künst¬
lerisch nothwendig sei, und so finden wir denn namentlich in den historischen
Tragödien fast regelmäßig eine Unzahl von Personen, für die kein mittleres
Theater die nöthigen Kräfte besitzt, und einen beständigen Wechsel des Orts
und der Zeit, der die Aufmerksamkeit des Publicums von dem Innern auf
das Aeußere ablenkt, waS gewiß gegen den Sinn der Kunst ist. Nachgrade
sieht man ein, daß die vielgeschmähten aristotelischen Regeln doch ihren ver¬
ständigen Sinn haben. Man wird sie zwar nicht mehr so äußerlich nehmen,
wie die Franzosen, bei denen die jungen Aeutcnants und Stutzer die beiden
Seiten des Theaters ausfüllten, so daß zwischen ihnen höchstens drei Acteurs
Raum hatten, sich schicklich aufzustellen, und daß weder von einem Wechsel
der Decorationen, noch von einem lebhaft bewegten Spiel die Rede sein konnte,
aber daß die Einheit der Handlung künstlerisch nothwendig sei, davon ist heute
jeder überzeugt und nicht weniger davon, daß die Aufmerksamkeit des Publi¬
cums so wenig als möglich durch den Wechsel der Decorationen, durch die
Massenhaftigkeit des Personals und durch Sprünge in der Zeit gestört wird;
mit andern Worten, man weiß, daß man mit den materiellen Mitteln haus¬
hälterisch umgehn muß, um künstlerisch zu wirken, und daß in dieser Beziehung
die Alten ein ernsthaftes Studium verdienen.

Man fühlt serner das Bedürfniß eines einheitlichen edlen Stils, der uns
der Sphäre des gemeinen Lebens entrücken soll. Auch hier ist durch eine mi߬
verstandene Auffassung Shakespeares das Theater mehr und mehr dem Natu¬
ralismus verfallen. Die Grenzen des Lustspiels und der Tragödie haben sich
verschoben, und selbst demokratische Dichter, die uns die Herrlichkeiten der
Revolution vorführen, versäumen niemals, die bekannten Volksscenen aus
Cäsar und Coriolan auszuschreiben, in denen sich die.wgjsstag xopuli nicht
sehr glänzend offenbart. sowol die Dichter als die Schauspieler sind nur zu
geneigt, den Naturalismus mit dem Realismus zu verwechseln und ihre Helden
so zu schildern, als ob sie die Kenntniß derselben den Kammerdienern ver¬
dankten. Trotz einzelner Versuche in der alten idealistischen Schule hat sich
dieser Naturalismus auf unserm Theater mehr und mehr ausgebreitet, und
die Kritiker mögen gegen die Birch-Pfeiffer eifern, so viel sie wollen, sie macht
noch immer volle Häuser. Auf der andern Seite ist es sehr schwer, zu dem
Idealismus des Schillerschen Theaters zurückzukehren, denn die Rhetorik dieses
glänzenden Dichters ist durch seine schlechten Nachahmer so verwässert worden,
und sie hat zu dieser Verwässerung so viel Gelegenheit geboten, daß in unsern
Tagen eine Art von Studium dazu gehört, zu entdecken, wie sehr sich die
Schillersche Sprache z. B. von der raupachschen unterscheidet. Das alles sind


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wechseln, daß man Personen zum Behuf einer einzelnen Scene einführen, daß
man die Handlung beliebig retardiren dürfe. Dann aber kamen die romanti¬
schen Kritiker und suchten nachzuweisen, daß in Shakespeare jede Scene künst¬
lerisch nothwendig sei, und so finden wir denn namentlich in den historischen
Tragödien fast regelmäßig eine Unzahl von Personen, für die kein mittleres
Theater die nöthigen Kräfte besitzt, und einen beständigen Wechsel des Orts
und der Zeit, der die Aufmerksamkeit des Publicums von dem Innern auf
das Aeußere ablenkt, waS gewiß gegen den Sinn der Kunst ist. Nachgrade
sieht man ein, daß die vielgeschmähten aristotelischen Regeln doch ihren ver¬
ständigen Sinn haben. Man wird sie zwar nicht mehr so äußerlich nehmen,
wie die Franzosen, bei denen die jungen Aeutcnants und Stutzer die beiden
Seiten des Theaters ausfüllten, so daß zwischen ihnen höchstens drei Acteurs
Raum hatten, sich schicklich aufzustellen, und daß weder von einem Wechsel
der Decorationen, noch von einem lebhaft bewegten Spiel die Rede sein konnte,
aber daß die Einheit der Handlung künstlerisch nothwendig sei, davon ist heute
jeder überzeugt und nicht weniger davon, daß die Aufmerksamkeit des Publi¬
cums so wenig als möglich durch den Wechsel der Decorationen, durch die
Massenhaftigkeit des Personals und durch Sprünge in der Zeit gestört wird;
mit andern Worten, man weiß, daß man mit den materiellen Mitteln haus¬
hälterisch umgehn muß, um künstlerisch zu wirken, und daß in dieser Beziehung
die Alten ein ernsthaftes Studium verdienen.

Man fühlt serner das Bedürfniß eines einheitlichen edlen Stils, der uns
der Sphäre des gemeinen Lebens entrücken soll. Auch hier ist durch eine mi߬
verstandene Auffassung Shakespeares das Theater mehr und mehr dem Natu¬
ralismus verfallen. Die Grenzen des Lustspiels und der Tragödie haben sich
verschoben, und selbst demokratische Dichter, die uns die Herrlichkeiten der
Revolution vorführen, versäumen niemals, die bekannten Volksscenen aus
Cäsar und Coriolan auszuschreiben, in denen sich die.wgjsstag xopuli nicht
sehr glänzend offenbart. sowol die Dichter als die Schauspieler sind nur zu
geneigt, den Naturalismus mit dem Realismus zu verwechseln und ihre Helden
so zu schildern, als ob sie die Kenntniß derselben den Kammerdienern ver¬
dankten. Trotz einzelner Versuche in der alten idealistischen Schule hat sich
dieser Naturalismus auf unserm Theater mehr und mehr ausgebreitet, und
die Kritiker mögen gegen die Birch-Pfeiffer eifern, so viel sie wollen, sie macht
noch immer volle Häuser. Auf der andern Seite ist es sehr schwer, zu dem
Idealismus des Schillerschen Theaters zurückzukehren, denn die Rhetorik dieses
glänzenden Dichters ist durch seine schlechten Nachahmer so verwässert worden,
und sie hat zu dieser Verwässerung so viel Gelegenheit geboten, daß in unsern
Tagen eine Art von Studium dazu gehört, zu entdecken, wie sehr sich die
Schillersche Sprache z. B. von der raupachschen unterscheidet. Das alles sind


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[0291] wechseln, daß man Personen zum Behuf einer einzelnen Scene einführen, daß man die Handlung beliebig retardiren dürfe. Dann aber kamen die romanti¬ schen Kritiker und suchten nachzuweisen, daß in Shakespeare jede Scene künst¬ lerisch nothwendig sei, und so finden wir denn namentlich in den historischen Tragödien fast regelmäßig eine Unzahl von Personen, für die kein mittleres Theater die nöthigen Kräfte besitzt, und einen beständigen Wechsel des Orts und der Zeit, der die Aufmerksamkeit des Publicums von dem Innern auf das Aeußere ablenkt, waS gewiß gegen den Sinn der Kunst ist. Nachgrade sieht man ein, daß die vielgeschmähten aristotelischen Regeln doch ihren ver¬ ständigen Sinn haben. Man wird sie zwar nicht mehr so äußerlich nehmen, wie die Franzosen, bei denen die jungen Aeutcnants und Stutzer die beiden Seiten des Theaters ausfüllten, so daß zwischen ihnen höchstens drei Acteurs Raum hatten, sich schicklich aufzustellen, und daß weder von einem Wechsel der Decorationen, noch von einem lebhaft bewegten Spiel die Rede sein konnte, aber daß die Einheit der Handlung künstlerisch nothwendig sei, davon ist heute jeder überzeugt und nicht weniger davon, daß die Aufmerksamkeit des Publi¬ cums so wenig als möglich durch den Wechsel der Decorationen, durch die Massenhaftigkeit des Personals und durch Sprünge in der Zeit gestört wird; mit andern Worten, man weiß, daß man mit den materiellen Mitteln haus¬ hälterisch umgehn muß, um künstlerisch zu wirken, und daß in dieser Beziehung die Alten ein ernsthaftes Studium verdienen. Man fühlt serner das Bedürfniß eines einheitlichen edlen Stils, der uns der Sphäre des gemeinen Lebens entrücken soll. Auch hier ist durch eine mi߬ verstandene Auffassung Shakespeares das Theater mehr und mehr dem Natu¬ ralismus verfallen. Die Grenzen des Lustspiels und der Tragödie haben sich verschoben, und selbst demokratische Dichter, die uns die Herrlichkeiten der Revolution vorführen, versäumen niemals, die bekannten Volksscenen aus Cäsar und Coriolan auszuschreiben, in denen sich die.wgjsstag xopuli nicht sehr glänzend offenbart. sowol die Dichter als die Schauspieler sind nur zu geneigt, den Naturalismus mit dem Realismus zu verwechseln und ihre Helden so zu schildern, als ob sie die Kenntniß derselben den Kammerdienern ver¬ dankten. Trotz einzelner Versuche in der alten idealistischen Schule hat sich dieser Naturalismus auf unserm Theater mehr und mehr ausgebreitet, und die Kritiker mögen gegen die Birch-Pfeiffer eifern, so viel sie wollen, sie macht noch immer volle Häuser. Auf der andern Seite ist es sehr schwer, zu dem Idealismus des Schillerschen Theaters zurückzukehren, denn die Rhetorik dieses glänzenden Dichters ist durch seine schlechten Nachahmer so verwässert worden, und sie hat zu dieser Verwässerung so viel Gelegenheit geboten, daß in unsern Tagen eine Art von Studium dazu gehört, zu entdecken, wie sehr sich die Schillersche Sprache z. B. von der raupachschen unterscheidet. Das alles sind 36 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/291>, abgerufen am 22.12.2024.