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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Welt dem neuen poetischen Princip, das eigentlich nur eine Wiederaufnahme
der alten Tradition war, beigetreten, und die französische Akademie, die sich
in den letzen Jahren fast ganz aus dem Heerlager der Romantik recrutirt hatte,
hat ihre geheiligten Pforten dem Dichter der Lucrezia geöffnet. Herr Pon¬
sard hat nicht verfehlt, bei dieser Gelegenheit Shakespeare und Goethe ab¬
zukanzeln und ihnen Corneille als Muster vorzuhalten, was doch selbst den
leidenschaftlichsten Anhänger Boileaus, Herrn Nisard, mit einiger Verwunde¬
rung erfüllt hat.

Wenn bei den Franzosen die classischen Stoffe und die classische Form
ein Ausdruck der nationalen Kunst sind, so ist sie bei uns nur in der Form
von Experimenten aufgetreten. Iphigenie, die Braut von Messina und Ion
haben zwar das Gemeinsame, daß sie auf Griechenland hinweisen, aber sie
sind in ihrer Tendenz so verschieben, daß sich daraus keine Schule hat ent¬
wickeln können. Der moderne Dichter kann sich an kein bestimmtes Vorbild
anlehnen, weder an Goethe, noch an Schiller, noch an Schlegel, er muß sich
auch in der Form seiner eignen Schöpferkraft überlassen. Am nächsten liegt es,
auf daS Urbild dieser Kunstform, auf die griechischen Tragiker zurückzugehen.
In den letzten Jahren sind eine Reihe Uebersetzungen aus dem Aeschylus,
Sophokles und Euripides erschienen, zum Theil mit einer sehr genauen Nach¬
bildung der Form und einem wesentlichen Fortschritt in der Technik, zum Theil
in der Schillerschen Weise modernistrt, z. B. die Stücke von Gravenhorst.
Wenn man erst anfängt in der Sprache zu modernistren, so gehen dem mo¬
dernen Dichter bald Lücken im Zusanimenhang der Handlung auf, er findet, daß in
diesem und jenem Punkt sich die Ansichten wesentlich geläutert haben, und er
versucht dann die Lücken auszufüllen, die antike Fabel mit dem sittlichen Geist
des Christenthums zu durchdringen und demnach auch die Begebenheiten selbst,
oder wenigstens ihre Motivirung zu verändern. Dieser Methode verdanken in
den letzten Jahren mehre Stücke ihre Entstehung, die sogar mit einigem Er¬
folg über die Breter gegangen sind. Hatte man doch schon früher den noch
kühnem Versuch gemacht, das griechische Theater in seiner strengen Form zu
restauriren, freilich mit einer Musik von Mendelssohn und Taubert, die den
Zeitgenossen des Perikles wunderlich genug geklungen haben würde.

Abgesehen von dem Trieb nach Neuerungen, der sich in einem unproducti-
ven Zeitalter am lebhaftesten regt, sind für diese Reaction zwei vollwichtig"-'
Gründe anzuführen.

Einmal fühlt man das Bedürfniß, die theatralischen Mittel zu verein¬
fachen. Die blinde Nachahmung Shakespeares hat auf unser Theater manche
schädlichen Einflüssen gehabt. Die Reformatoren unserer Bühne, Lessing, Schiller
und Goethe, haben zwar genau gewußt, wie weit Shakespeare nachzuahmen
sei; sie haben nicht geglaubt, daß man jede dritte Minute mit der Decoratio"


Welt dem neuen poetischen Princip, das eigentlich nur eine Wiederaufnahme
der alten Tradition war, beigetreten, und die französische Akademie, die sich
in den letzen Jahren fast ganz aus dem Heerlager der Romantik recrutirt hatte,
hat ihre geheiligten Pforten dem Dichter der Lucrezia geöffnet. Herr Pon¬
sard hat nicht verfehlt, bei dieser Gelegenheit Shakespeare und Goethe ab¬
zukanzeln und ihnen Corneille als Muster vorzuhalten, was doch selbst den
leidenschaftlichsten Anhänger Boileaus, Herrn Nisard, mit einiger Verwunde¬
rung erfüllt hat.

Wenn bei den Franzosen die classischen Stoffe und die classische Form
ein Ausdruck der nationalen Kunst sind, so ist sie bei uns nur in der Form
von Experimenten aufgetreten. Iphigenie, die Braut von Messina und Ion
haben zwar das Gemeinsame, daß sie auf Griechenland hinweisen, aber sie
sind in ihrer Tendenz so verschieben, daß sich daraus keine Schule hat ent¬
wickeln können. Der moderne Dichter kann sich an kein bestimmtes Vorbild
anlehnen, weder an Goethe, noch an Schiller, noch an Schlegel, er muß sich
auch in der Form seiner eignen Schöpferkraft überlassen. Am nächsten liegt es,
auf daS Urbild dieser Kunstform, auf die griechischen Tragiker zurückzugehen.
In den letzten Jahren sind eine Reihe Uebersetzungen aus dem Aeschylus,
Sophokles und Euripides erschienen, zum Theil mit einer sehr genauen Nach¬
bildung der Form und einem wesentlichen Fortschritt in der Technik, zum Theil
in der Schillerschen Weise modernistrt, z. B. die Stücke von Gravenhorst.
Wenn man erst anfängt in der Sprache zu modernistren, so gehen dem mo¬
dernen Dichter bald Lücken im Zusanimenhang der Handlung auf, er findet, daß in
diesem und jenem Punkt sich die Ansichten wesentlich geläutert haben, und er
versucht dann die Lücken auszufüllen, die antike Fabel mit dem sittlichen Geist
des Christenthums zu durchdringen und demnach auch die Begebenheiten selbst,
oder wenigstens ihre Motivirung zu verändern. Dieser Methode verdanken in
den letzten Jahren mehre Stücke ihre Entstehung, die sogar mit einigem Er¬
folg über die Breter gegangen sind. Hatte man doch schon früher den noch
kühnem Versuch gemacht, das griechische Theater in seiner strengen Form zu
restauriren, freilich mit einer Musik von Mendelssohn und Taubert, die den
Zeitgenossen des Perikles wunderlich genug geklungen haben würde.

Abgesehen von dem Trieb nach Neuerungen, der sich in einem unproducti-
ven Zeitalter am lebhaftesten regt, sind für diese Reaction zwei vollwichtig«-'
Gründe anzuführen.

Einmal fühlt man das Bedürfniß, die theatralischen Mittel zu verein¬
fachen. Die blinde Nachahmung Shakespeares hat auf unser Theater manche
schädlichen Einflüssen gehabt. Die Reformatoren unserer Bühne, Lessing, Schiller
und Goethe, haben zwar genau gewußt, wie weit Shakespeare nachzuahmen
sei; sie haben nicht geglaubt, daß man jede dritte Minute mit der Decoratio»


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[0290] Welt dem neuen poetischen Princip, das eigentlich nur eine Wiederaufnahme der alten Tradition war, beigetreten, und die französische Akademie, die sich in den letzen Jahren fast ganz aus dem Heerlager der Romantik recrutirt hatte, hat ihre geheiligten Pforten dem Dichter der Lucrezia geöffnet. Herr Pon¬ sard hat nicht verfehlt, bei dieser Gelegenheit Shakespeare und Goethe ab¬ zukanzeln und ihnen Corneille als Muster vorzuhalten, was doch selbst den leidenschaftlichsten Anhänger Boileaus, Herrn Nisard, mit einiger Verwunde¬ rung erfüllt hat. Wenn bei den Franzosen die classischen Stoffe und die classische Form ein Ausdruck der nationalen Kunst sind, so ist sie bei uns nur in der Form von Experimenten aufgetreten. Iphigenie, die Braut von Messina und Ion haben zwar das Gemeinsame, daß sie auf Griechenland hinweisen, aber sie sind in ihrer Tendenz so verschieben, daß sich daraus keine Schule hat ent¬ wickeln können. Der moderne Dichter kann sich an kein bestimmtes Vorbild anlehnen, weder an Goethe, noch an Schiller, noch an Schlegel, er muß sich auch in der Form seiner eignen Schöpferkraft überlassen. Am nächsten liegt es, auf daS Urbild dieser Kunstform, auf die griechischen Tragiker zurückzugehen. In den letzten Jahren sind eine Reihe Uebersetzungen aus dem Aeschylus, Sophokles und Euripides erschienen, zum Theil mit einer sehr genauen Nach¬ bildung der Form und einem wesentlichen Fortschritt in der Technik, zum Theil in der Schillerschen Weise modernistrt, z. B. die Stücke von Gravenhorst. Wenn man erst anfängt in der Sprache zu modernistren, so gehen dem mo¬ dernen Dichter bald Lücken im Zusanimenhang der Handlung auf, er findet, daß in diesem und jenem Punkt sich die Ansichten wesentlich geläutert haben, und er versucht dann die Lücken auszufüllen, die antike Fabel mit dem sittlichen Geist des Christenthums zu durchdringen und demnach auch die Begebenheiten selbst, oder wenigstens ihre Motivirung zu verändern. Dieser Methode verdanken in den letzten Jahren mehre Stücke ihre Entstehung, die sogar mit einigem Er¬ folg über die Breter gegangen sind. Hatte man doch schon früher den noch kühnem Versuch gemacht, das griechische Theater in seiner strengen Form zu restauriren, freilich mit einer Musik von Mendelssohn und Taubert, die den Zeitgenossen des Perikles wunderlich genug geklungen haben würde. Abgesehen von dem Trieb nach Neuerungen, der sich in einem unproducti- ven Zeitalter am lebhaftesten regt, sind für diese Reaction zwei vollwichtig«-' Gründe anzuführen. Einmal fühlt man das Bedürfniß, die theatralischen Mittel zu verein¬ fachen. Die blinde Nachahmung Shakespeares hat auf unser Theater manche schädlichen Einflüssen gehabt. Die Reformatoren unserer Bühne, Lessing, Schiller und Goethe, haben zwar genau gewußt, wie weit Shakespeare nachzuahmen sei; sie haben nicht geglaubt, daß man jede dritte Minute mit der Decoratio»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/290>, abgerufen am 22.07.2024.