Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Er hat oft Gelegenheit gehabt, die Welt von seinem scharfen staatsmännischen
Blicke zu überzeugen -- wir erinnern hier nur an seine frühzeitige Auffassung
deS französischen Staatsstreiches, -- noch öfter jedoch griff er mit leichtsinniger
Hand in Ereignisse ein, die sich ohne sein Zuthun ruhig abgewickelt hätten,
verletzte eine Regierung nach der andern, um später entschuldigend auszuweichen,
war brutal gegen kleine Staaten, um von den großen manche derbe Zurecht¬
weisung seines Vorwitzes hinzunehmen, verpfändete unmittelbar und mittelbar
Englands Wort mit dem vollen Bewußtsein, es nie einlösen zu können, koket-
tirte mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher in einer nicht immer ehren¬
vollen Weise, und brachte durch seine Politik, die oft nicht weiser als für den
nächsten Tag sorgte, und durch sein ewiges Drohen, dem die That nicht auf
dem Fuß folgre, England durch lauter kleinliche, meist verunglückte Schachzüge
um ein gut Theil seines gewaltigen Ansehens, dessen es sich unter allen.
Staaten der Welt nach dem Falle des ersten Napoleon in erster Reihe zu
rühmen hatte. Das ist seine größte Sünde. Sie ist das Gesammtresultat
aller seiner großen und kleinen Mißgriffe. Durch sie leidet, traurig genug,
nicht England allein.

Urquhart verdient von seinem Vaterlande Anerkennung, daß er sich durch das
Geschrei der Menge nicht abschrecken ließ, ihrem Abgott ein Stück seiner Wolkenhülle
wegzureißen. Schade nur, daß er zu Extremen verleitet wurde. Urquhart
sieht zu Palmerston hinauf, oder wenn man lieber will, hinab, wie zu einem
allmächtigen, geheimnißvoll waltenden, alles berechnenden, Europa ordnenden
gigantischen Dämon, der nur eine Macht über sich erkennt -- -- nicht Gott,
auch nicht den Tod, auch nicht die Leidenschaft, nein, nur Nußland, dem er
England stückweise zum Opfer bringt. Weshalb? das fragt man selbst Ur-,
quhart vergebens. Und weil er eine so ungemessen hohe Meinung von Sr.
Lordschaft diabolischer Begabung hat, bürdet er Sr. Lordschaft alle und jede
Schuld auf, für alles und jedes, was in allen Ecken der bewohnten Welt
geschieht.

Das ist offenbarer Wahnsinn, aber wenigstens ein cousequenter. Seine
Schüler sind kleinlicher. Das führt ängstlich über jedes Wort Register. Lord
Palmerston hat vorgestern gesagt, die Depesche von Crampton sei noch nicht an¬
gekommen, somit könne er darüber keine Mittheilung machen. Lord Clarendon
hat dagegen gestern unvorsichtigerweise ausgeschwatzt, besagte Depesche sei
schon vorgestern angelangt. Hurrah! rufen die Schüler -- merkwürdige Ent¬
hüllung! Rechtfertigung unserer Behauptungen! Zermalmung aller Gothaer!
Ein englischer Minister hat gelogen! Wer sagt noch, daß die englische Verfassung
doppelt so schön ist wie alle Schöpfungen Gottes zusammengenommen? --
Aber dergleichen Unsinn zu behaupten ist unsern heimischen Parteigenossen
ja nie eingefallen. Und was die angebliche Lüge Lord Palmerstons aude-


Er hat oft Gelegenheit gehabt, die Welt von seinem scharfen staatsmännischen
Blicke zu überzeugen — wir erinnern hier nur an seine frühzeitige Auffassung
deS französischen Staatsstreiches, — noch öfter jedoch griff er mit leichtsinniger
Hand in Ereignisse ein, die sich ohne sein Zuthun ruhig abgewickelt hätten,
verletzte eine Regierung nach der andern, um später entschuldigend auszuweichen,
war brutal gegen kleine Staaten, um von den großen manche derbe Zurecht¬
weisung seines Vorwitzes hinzunehmen, verpfändete unmittelbar und mittelbar
Englands Wort mit dem vollen Bewußtsein, es nie einlösen zu können, koket-
tirte mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher in einer nicht immer ehren¬
vollen Weise, und brachte durch seine Politik, die oft nicht weiser als für den
nächsten Tag sorgte, und durch sein ewiges Drohen, dem die That nicht auf
dem Fuß folgre, England durch lauter kleinliche, meist verunglückte Schachzüge
um ein gut Theil seines gewaltigen Ansehens, dessen es sich unter allen.
Staaten der Welt nach dem Falle des ersten Napoleon in erster Reihe zu
rühmen hatte. Das ist seine größte Sünde. Sie ist das Gesammtresultat
aller seiner großen und kleinen Mißgriffe. Durch sie leidet, traurig genug,
nicht England allein.

Urquhart verdient von seinem Vaterlande Anerkennung, daß er sich durch das
Geschrei der Menge nicht abschrecken ließ, ihrem Abgott ein Stück seiner Wolkenhülle
wegzureißen. Schade nur, daß er zu Extremen verleitet wurde. Urquhart
sieht zu Palmerston hinauf, oder wenn man lieber will, hinab, wie zu einem
allmächtigen, geheimnißvoll waltenden, alles berechnenden, Europa ordnenden
gigantischen Dämon, der nur eine Macht über sich erkennt — — nicht Gott,
auch nicht den Tod, auch nicht die Leidenschaft, nein, nur Nußland, dem er
England stückweise zum Opfer bringt. Weshalb? das fragt man selbst Ur-,
quhart vergebens. Und weil er eine so ungemessen hohe Meinung von Sr.
Lordschaft diabolischer Begabung hat, bürdet er Sr. Lordschaft alle und jede
Schuld auf, für alles und jedes, was in allen Ecken der bewohnten Welt
geschieht.

Das ist offenbarer Wahnsinn, aber wenigstens ein cousequenter. Seine
Schüler sind kleinlicher. Das führt ängstlich über jedes Wort Register. Lord
Palmerston hat vorgestern gesagt, die Depesche von Crampton sei noch nicht an¬
gekommen, somit könne er darüber keine Mittheilung machen. Lord Clarendon
hat dagegen gestern unvorsichtigerweise ausgeschwatzt, besagte Depesche sei
schon vorgestern angelangt. Hurrah! rufen die Schüler — merkwürdige Ent¬
hüllung! Rechtfertigung unserer Behauptungen! Zermalmung aller Gothaer!
Ein englischer Minister hat gelogen! Wer sagt noch, daß die englische Verfassung
doppelt so schön ist wie alle Schöpfungen Gottes zusammengenommen? —
Aber dergleichen Unsinn zu behaupten ist unsern heimischen Parteigenossen
ja nie eingefallen. Und was die angebliche Lüge Lord Palmerstons aude-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103161"/>
          <p xml:id="ID_79" prev="#ID_78"> Er hat oft Gelegenheit gehabt, die Welt von seinem scharfen staatsmännischen<lb/>
Blicke zu überzeugen &#x2014; wir erinnern hier nur an seine frühzeitige Auffassung<lb/>
deS französischen Staatsstreiches, &#x2014; noch öfter jedoch griff er mit leichtsinniger<lb/>
Hand in Ereignisse ein, die sich ohne sein Zuthun ruhig abgewickelt hätten,<lb/>
verletzte eine Regierung nach der andern, um später entschuldigend auszuweichen,<lb/>
war brutal gegen kleine Staaten, um von den großen manche derbe Zurecht¬<lb/>
weisung seines Vorwitzes hinzunehmen, verpfändete unmittelbar und mittelbar<lb/>
Englands Wort mit dem vollen Bewußtsein, es nie einlösen zu können, koket-<lb/>
tirte mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher in einer nicht immer ehren¬<lb/>
vollen Weise, und brachte durch seine Politik, die oft nicht weiser als für den<lb/>
nächsten Tag sorgte, und durch sein ewiges Drohen, dem die That nicht auf<lb/>
dem Fuß folgre, England durch lauter kleinliche, meist verunglückte Schachzüge<lb/>
um ein gut Theil seines gewaltigen Ansehens, dessen es sich unter allen.<lb/>
Staaten der Welt nach dem Falle des ersten Napoleon in erster Reihe zu<lb/>
rühmen hatte. Das ist seine größte Sünde. Sie ist das Gesammtresultat<lb/>
aller seiner großen und kleinen Mißgriffe. Durch sie leidet, traurig genug,<lb/>
nicht England allein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_80"> Urquhart verdient von seinem Vaterlande Anerkennung, daß er sich durch das<lb/>
Geschrei der Menge nicht abschrecken ließ, ihrem Abgott ein Stück seiner Wolkenhülle<lb/>
wegzureißen. Schade nur, daß er zu Extremen verleitet wurde. Urquhart<lb/>
sieht zu Palmerston hinauf, oder wenn man lieber will, hinab, wie zu einem<lb/>
allmächtigen, geheimnißvoll waltenden, alles berechnenden, Europa ordnenden<lb/>
gigantischen Dämon, der nur eine Macht über sich erkennt &#x2014; &#x2014; nicht Gott,<lb/>
auch nicht den Tod, auch nicht die Leidenschaft, nein, nur Nußland, dem er<lb/>
England stückweise zum Opfer bringt. Weshalb? das fragt man selbst Ur-,<lb/>
quhart vergebens. Und weil er eine so ungemessen hohe Meinung von Sr.<lb/>
Lordschaft diabolischer Begabung hat, bürdet er Sr. Lordschaft alle und jede<lb/>
Schuld auf, für alles und jedes, was in allen Ecken der bewohnten Welt<lb/>
geschieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_81" next="#ID_82"> Das ist offenbarer Wahnsinn, aber wenigstens ein cousequenter. Seine<lb/>
Schüler sind kleinlicher. Das führt ängstlich über jedes Wort Register. Lord<lb/>
Palmerston hat vorgestern gesagt, die Depesche von Crampton sei noch nicht an¬<lb/>
gekommen, somit könne er darüber keine Mittheilung machen. Lord Clarendon<lb/>
hat dagegen gestern unvorsichtigerweise ausgeschwatzt, besagte Depesche sei<lb/>
schon vorgestern angelangt. Hurrah! rufen die Schüler &#x2014; merkwürdige Ent¬<lb/>
hüllung! Rechtfertigung unserer Behauptungen! Zermalmung aller Gothaer!<lb/>
Ein englischer Minister hat gelogen! Wer sagt noch, daß die englische Verfassung<lb/>
doppelt so schön ist wie alle Schöpfungen Gottes zusammengenommen? &#x2014;<lb/>
Aber dergleichen Unsinn zu behaupten ist unsern heimischen Parteigenossen<lb/>
ja nie eingefallen.  Und was die angebliche Lüge Lord Palmerstons aude-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Er hat oft Gelegenheit gehabt, die Welt von seinem scharfen staatsmännischen Blicke zu überzeugen — wir erinnern hier nur an seine frühzeitige Auffassung deS französischen Staatsstreiches, — noch öfter jedoch griff er mit leichtsinniger Hand in Ereignisse ein, die sich ohne sein Zuthun ruhig abgewickelt hätten, verletzte eine Regierung nach der andern, um später entschuldigend auszuweichen, war brutal gegen kleine Staaten, um von den großen manche derbe Zurecht¬ weisung seines Vorwitzes hinzunehmen, verpfändete unmittelbar und mittelbar Englands Wort mit dem vollen Bewußtsein, es nie einlösen zu können, koket- tirte mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher in einer nicht immer ehren¬ vollen Weise, und brachte durch seine Politik, die oft nicht weiser als für den nächsten Tag sorgte, und durch sein ewiges Drohen, dem die That nicht auf dem Fuß folgre, England durch lauter kleinliche, meist verunglückte Schachzüge um ein gut Theil seines gewaltigen Ansehens, dessen es sich unter allen. Staaten der Welt nach dem Falle des ersten Napoleon in erster Reihe zu rühmen hatte. Das ist seine größte Sünde. Sie ist das Gesammtresultat aller seiner großen und kleinen Mißgriffe. Durch sie leidet, traurig genug, nicht England allein. Urquhart verdient von seinem Vaterlande Anerkennung, daß er sich durch das Geschrei der Menge nicht abschrecken ließ, ihrem Abgott ein Stück seiner Wolkenhülle wegzureißen. Schade nur, daß er zu Extremen verleitet wurde. Urquhart sieht zu Palmerston hinauf, oder wenn man lieber will, hinab, wie zu einem allmächtigen, geheimnißvoll waltenden, alles berechnenden, Europa ordnenden gigantischen Dämon, der nur eine Macht über sich erkennt — — nicht Gott, auch nicht den Tod, auch nicht die Leidenschaft, nein, nur Nußland, dem er England stückweise zum Opfer bringt. Weshalb? das fragt man selbst Ur-, quhart vergebens. Und weil er eine so ungemessen hohe Meinung von Sr. Lordschaft diabolischer Begabung hat, bürdet er Sr. Lordschaft alle und jede Schuld auf, für alles und jedes, was in allen Ecken der bewohnten Welt geschieht. Das ist offenbarer Wahnsinn, aber wenigstens ein cousequenter. Seine Schüler sind kleinlicher. Das führt ängstlich über jedes Wort Register. Lord Palmerston hat vorgestern gesagt, die Depesche von Crampton sei noch nicht an¬ gekommen, somit könne er darüber keine Mittheilung machen. Lord Clarendon hat dagegen gestern unvorsichtigerweise ausgeschwatzt, besagte Depesche sei schon vorgestern angelangt. Hurrah! rufen die Schüler — merkwürdige Ent¬ hüllung! Rechtfertigung unserer Behauptungen! Zermalmung aller Gothaer! Ein englischer Minister hat gelogen! Wer sagt noch, daß die englische Verfassung doppelt so schön ist wie alle Schöpfungen Gottes zusammengenommen? — Aber dergleichen Unsinn zu behaupten ist unsern heimischen Parteigenossen ja nie eingefallen. Und was die angebliche Lüge Lord Palmerstons aude-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/28
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/28>, abgerufen am 22.07.2024.