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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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liegt der Abweg nach einer entgegengesetzten Seite. Die Verehrer Goethes
sind nur zu geneigt, in jedem Papierschnitzel, das er einmal hat fallen lassen,
eine poetische Offenbarung zu begrüßen, und leider sind wir Deutsche sämmt¬
lich so philosophisch geschult, daß es uns an Gründen niemals fehlt. Was
haben nicht die geistvollsten Männer für unsinnige Theorien ausgedacht, um
den zweiten Theil des Faust, die Wanderjahre und Aehnliches zu rechtfertigen.
Man denke an das, was wir vor einigen Monaten über Rosenkranz gesagt
haben. In dieser Beziehung ist namentlich ein Umstand für den Schriftsteller,
wenn er zunächst an Goethes Freunde denkt, sehr peinlich. Jene philosophi¬
schen Auslegungen sind nicht etwas Neues, man hatte es schon zu Goethes
Lebzeiten sehr weit darin gebracht, und dem alten Herrn war es gar nicht
unbequem, wenn man ihm a priori nachwies, daß alle seine Einfälle den
Stempel höherer philosophischer Nothwendigkeit an sich trügen. Nun ist es
meistens der Greis, dessen hohe Gestalt in dem Gedächtniß und in der Phan¬
tasie der Zeitgenossen schwebt; daS Bild des Jünglings muß man sich erst
künstlich ausarbeiten, und unversehens nimmt es manche greisenhafte Züge an.
So ist auch sehr bedenklich, sich an Goethes Gegner zu erinnern, über die er
sich immer sehr geringschätzig ausgesprochen hat. Wir meinen damit nicht die
principiellen Gegner, die Pustkuchen, Menzel u> s. w., die um der Paradorie
willen sich Mühe gaben, alles anzugreifen, was Goethe geschrieben hatte,
sondern Männer wie Kotzebue und Seinesgleichen, die zwischen den ewigen
Werken Goethes und seinen Papierschnitzeln im Ganzen einen ganz richtigen
Unterschied machten. Auch darin kann der Engländer viel unbefangener zu
Werke gehen, denn von jenen Kritikern hat in England niemand etwas gehört,
und wenn er z. B. von dem Triumph der Empfindsamkeit sagt, "daß, was
uns jetzt als eine langweilige Farce erscheint, damals als ein unwiderstehlicher
Unsinn bewundert wurde;" so darf er nicht fürchten, deshalb mit Kotzebue
zusammengestellt zu werden. Freilich widerfährt eS ihm dann auch zuweilen,
daß er sich über die öffentliche Meinung in Deutschland täuscht, und wenn
er meint, der Triumph der Empfindsamkeit sei ein in Deutschland besonders
beliebtes und gefeiertes Stück, so möchten sich die Männer, die außer Rosen¬
kranz in Deutschland dieser Ansicht sind, doch wol zählen lassen.

Diese Umstände erklären die Befangenheit unsers Urtheils. Die Erzählung
wird zunächst dadurch erschwert, daß wir einen Concurrenten haben, mit dem
es niemand aufnimmt, nämlich Goethe selbst. Wie soll man es mit den
Zügen machen, die Goethe in Dichtung und Wahrheit erzählt hat? Die meisten
Abschnitte darin sind in der Form so classisch, daß sie jeden Wetteifer aus¬
schließen. Alle Versuche, die Geschichte mit Friederike, mit Lily u. s- w.
anders zu erzählen, als sie in Dichtung und Wahrheit erzählt sind, machen
einen peinlichen Eindruck, denn man sieht, wie der Schriftsteller sich anstrengt,


liegt der Abweg nach einer entgegengesetzten Seite. Die Verehrer Goethes
sind nur zu geneigt, in jedem Papierschnitzel, das er einmal hat fallen lassen,
eine poetische Offenbarung zu begrüßen, und leider sind wir Deutsche sämmt¬
lich so philosophisch geschult, daß es uns an Gründen niemals fehlt. Was
haben nicht die geistvollsten Männer für unsinnige Theorien ausgedacht, um
den zweiten Theil des Faust, die Wanderjahre und Aehnliches zu rechtfertigen.
Man denke an das, was wir vor einigen Monaten über Rosenkranz gesagt
haben. In dieser Beziehung ist namentlich ein Umstand für den Schriftsteller,
wenn er zunächst an Goethes Freunde denkt, sehr peinlich. Jene philosophi¬
schen Auslegungen sind nicht etwas Neues, man hatte es schon zu Goethes
Lebzeiten sehr weit darin gebracht, und dem alten Herrn war es gar nicht
unbequem, wenn man ihm a priori nachwies, daß alle seine Einfälle den
Stempel höherer philosophischer Nothwendigkeit an sich trügen. Nun ist es
meistens der Greis, dessen hohe Gestalt in dem Gedächtniß und in der Phan¬
tasie der Zeitgenossen schwebt; daS Bild des Jünglings muß man sich erst
künstlich ausarbeiten, und unversehens nimmt es manche greisenhafte Züge an.
So ist auch sehr bedenklich, sich an Goethes Gegner zu erinnern, über die er
sich immer sehr geringschätzig ausgesprochen hat. Wir meinen damit nicht die
principiellen Gegner, die Pustkuchen, Menzel u> s. w., die um der Paradorie
willen sich Mühe gaben, alles anzugreifen, was Goethe geschrieben hatte,
sondern Männer wie Kotzebue und Seinesgleichen, die zwischen den ewigen
Werken Goethes und seinen Papierschnitzeln im Ganzen einen ganz richtigen
Unterschied machten. Auch darin kann der Engländer viel unbefangener zu
Werke gehen, denn von jenen Kritikern hat in England niemand etwas gehört,
und wenn er z. B. von dem Triumph der Empfindsamkeit sagt, „daß, was
uns jetzt als eine langweilige Farce erscheint, damals als ein unwiderstehlicher
Unsinn bewundert wurde;" so darf er nicht fürchten, deshalb mit Kotzebue
zusammengestellt zu werden. Freilich widerfährt eS ihm dann auch zuweilen,
daß er sich über die öffentliche Meinung in Deutschland täuscht, und wenn
er meint, der Triumph der Empfindsamkeit sei ein in Deutschland besonders
beliebtes und gefeiertes Stück, so möchten sich die Männer, die außer Rosen¬
kranz in Deutschland dieser Ansicht sind, doch wol zählen lassen.

Diese Umstände erklären die Befangenheit unsers Urtheils. Die Erzählung
wird zunächst dadurch erschwert, daß wir einen Concurrenten haben, mit dem
es niemand aufnimmt, nämlich Goethe selbst. Wie soll man es mit den
Zügen machen, die Goethe in Dichtung und Wahrheit erzählt hat? Die meisten
Abschnitte darin sind in der Form so classisch, daß sie jeden Wetteifer aus¬
schließen. Alle Versuche, die Geschichte mit Friederike, mit Lily u. s- w.
anders zu erzählen, als sie in Dichtung und Wahrheit erzählt sind, machen
einen peinlichen Eindruck, denn man sieht, wie der Schriftsteller sich anstrengt,


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[0272] liegt der Abweg nach einer entgegengesetzten Seite. Die Verehrer Goethes sind nur zu geneigt, in jedem Papierschnitzel, das er einmal hat fallen lassen, eine poetische Offenbarung zu begrüßen, und leider sind wir Deutsche sämmt¬ lich so philosophisch geschult, daß es uns an Gründen niemals fehlt. Was haben nicht die geistvollsten Männer für unsinnige Theorien ausgedacht, um den zweiten Theil des Faust, die Wanderjahre und Aehnliches zu rechtfertigen. Man denke an das, was wir vor einigen Monaten über Rosenkranz gesagt haben. In dieser Beziehung ist namentlich ein Umstand für den Schriftsteller, wenn er zunächst an Goethes Freunde denkt, sehr peinlich. Jene philosophi¬ schen Auslegungen sind nicht etwas Neues, man hatte es schon zu Goethes Lebzeiten sehr weit darin gebracht, und dem alten Herrn war es gar nicht unbequem, wenn man ihm a priori nachwies, daß alle seine Einfälle den Stempel höherer philosophischer Nothwendigkeit an sich trügen. Nun ist es meistens der Greis, dessen hohe Gestalt in dem Gedächtniß und in der Phan¬ tasie der Zeitgenossen schwebt; daS Bild des Jünglings muß man sich erst künstlich ausarbeiten, und unversehens nimmt es manche greisenhafte Züge an. So ist auch sehr bedenklich, sich an Goethes Gegner zu erinnern, über die er sich immer sehr geringschätzig ausgesprochen hat. Wir meinen damit nicht die principiellen Gegner, die Pustkuchen, Menzel u> s. w., die um der Paradorie willen sich Mühe gaben, alles anzugreifen, was Goethe geschrieben hatte, sondern Männer wie Kotzebue und Seinesgleichen, die zwischen den ewigen Werken Goethes und seinen Papierschnitzeln im Ganzen einen ganz richtigen Unterschied machten. Auch darin kann der Engländer viel unbefangener zu Werke gehen, denn von jenen Kritikern hat in England niemand etwas gehört, und wenn er z. B. von dem Triumph der Empfindsamkeit sagt, „daß, was uns jetzt als eine langweilige Farce erscheint, damals als ein unwiderstehlicher Unsinn bewundert wurde;" so darf er nicht fürchten, deshalb mit Kotzebue zusammengestellt zu werden. Freilich widerfährt eS ihm dann auch zuweilen, daß er sich über die öffentliche Meinung in Deutschland täuscht, und wenn er meint, der Triumph der Empfindsamkeit sei ein in Deutschland besonders beliebtes und gefeiertes Stück, so möchten sich die Männer, die außer Rosen¬ kranz in Deutschland dieser Ansicht sind, doch wol zählen lassen. Diese Umstände erklären die Befangenheit unsers Urtheils. Die Erzählung wird zunächst dadurch erschwert, daß wir einen Concurrenten haben, mit dem es niemand aufnimmt, nämlich Goethe selbst. Wie soll man es mit den Zügen machen, die Goethe in Dichtung und Wahrheit erzählt hat? Die meisten Abschnitte darin sind in der Form so classisch, daß sie jeden Wetteifer aus¬ schließen. Alle Versuche, die Geschichte mit Friederike, mit Lily u. s- w. anders zu erzählen, als sie in Dichtung und Wahrheit erzählt sind, machen einen peinlichen Eindruck, denn man sieht, wie der Schriftsteller sich anstrengt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/272>, abgerufen am 22.12.2024.