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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Menschenalter beschäftigen sich eine Reihe von Kunstfreunden und Gelehrten
mit den Vorstudien zu Goethes Leben, und nun tritt ein Fremder auf und
Pflücke die Frucht ab, bevor wir uns ein System darüber gebildet haben, wie
sie am besten zu brechen sei. Wie dem auch sei, wir müssen anerkennen, daß
das Unternehmen vollständig gerechtfertigt ist, und daß wir bis jetzt wenigstens
ihm nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen haben.

Folgendes möchten die Gründe sein, die uns bisher abgehalten haben,
das Leben Goethes in der Art zu schreiben, wie es geschrieben werden soll,
mit wissenschaftlicher Strenge und als ein Kunstwerk.

Keiner von unsern Schriftstellern steht Goethe ganz unbefangen gegenüber.
An Goethes Namen knüpft sich eine ganze Reihe von literarischen Parteifragen,
die jeden mehr oder minder bewegt haben, und über die man seinem Herzen
Luft zu machen sucht, sobald sich irgend eine Gelegenheit dazu bietet. Ohne
zu große Uebertreibung kann man behaupten, daß jeder, der in Deutschland
überhaupt etwas geschrieben, auch einmal etwas über Goethe geschrieben hat.
Wenn es nun auch wol keinen in Deutschland geben mag, der alles gelesen
hat, was über Goethe geschrieben ist, so schwebt doch jedem eine ziemliche Zahl
der dahin einschlagenden Urtheile und Ansichten vor, und unwillkürlich sucht
er sich ihnen gegenüber eine eigne Position zu geben. Der deutsche Biograph
Goethes spricht nicht zu dem Volk, sondern zu den literarisch Gebildeten, um
deren Urtheile zu berichtigen, zu erweitern, zu befestigen. Diese kritische
Richtung ist für ein Kunstwerk nicht richtig; denn abgesehen davon, daß sie in
der Regel den Schriftsteller verführt, in der Consequenz zu weit zu gehen,
und um des Neuen willen die Paradorie nicht zu scheuen, stört sie auch den
ruhigen Fluß der Erzählung. Um wie viel glücklicher ist darin der Engländer,
der gar keine Voraussetzungen zu machen hat, der mit der ganzen Frische
eines unmittelbaren Eindrucks ein Leben darstellen kann, das sich in seiner
ganzen Anlage zu einem harmonischen Kunstwerk eignet. Der deutsche Schrift¬
steller ist in der peinlichen Lage, fast bei jedem Werk Goethes, auch wo er
die wärmste Anerkennung ausspricht, sich gegen die Consequenzen zu verwahren,
die man allenfalls daraus ziehen könnte, denn jedes Werk von Goethe hat
unzählige Nachahmungen hervorgerufen, die, so fratzenhaft sie aussehn, doch
immer eine gewisse Verwandtschaft mit dem Original zeigen, die aller Welt
bekannt sind, und vor deren Princip man daher warnen muß, wenn man in
der Literatur keinen Schaden anstiften will. Der Engländer steht darin voll¬
kommen frei. Was geht es ihn an, ob Werther, Meister, Faust, Tasso u. s. w.
in Deutschland zu Charaktermasken geworden sind, hinter denen jeder beliebige
subter sein einfältiges Gesicht versteckt. Er freut sich des schönen Werks an
und für sich, ohne an seine weitern Folgen zu denken, und theilt seinen Lands¬
leuten mit aller Wärme, deren er fähig ist, diese Freude mit. -- Ebenso nahe


Menschenalter beschäftigen sich eine Reihe von Kunstfreunden und Gelehrten
mit den Vorstudien zu Goethes Leben, und nun tritt ein Fremder auf und
Pflücke die Frucht ab, bevor wir uns ein System darüber gebildet haben, wie
sie am besten zu brechen sei. Wie dem auch sei, wir müssen anerkennen, daß
das Unternehmen vollständig gerechtfertigt ist, und daß wir bis jetzt wenigstens
ihm nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen haben.

Folgendes möchten die Gründe sein, die uns bisher abgehalten haben,
das Leben Goethes in der Art zu schreiben, wie es geschrieben werden soll,
mit wissenschaftlicher Strenge und als ein Kunstwerk.

Keiner von unsern Schriftstellern steht Goethe ganz unbefangen gegenüber.
An Goethes Namen knüpft sich eine ganze Reihe von literarischen Parteifragen,
die jeden mehr oder minder bewegt haben, und über die man seinem Herzen
Luft zu machen sucht, sobald sich irgend eine Gelegenheit dazu bietet. Ohne
zu große Uebertreibung kann man behaupten, daß jeder, der in Deutschland
überhaupt etwas geschrieben, auch einmal etwas über Goethe geschrieben hat.
Wenn es nun auch wol keinen in Deutschland geben mag, der alles gelesen
hat, was über Goethe geschrieben ist, so schwebt doch jedem eine ziemliche Zahl
der dahin einschlagenden Urtheile und Ansichten vor, und unwillkürlich sucht
er sich ihnen gegenüber eine eigne Position zu geben. Der deutsche Biograph
Goethes spricht nicht zu dem Volk, sondern zu den literarisch Gebildeten, um
deren Urtheile zu berichtigen, zu erweitern, zu befestigen. Diese kritische
Richtung ist für ein Kunstwerk nicht richtig; denn abgesehen davon, daß sie in
der Regel den Schriftsteller verführt, in der Consequenz zu weit zu gehen,
und um des Neuen willen die Paradorie nicht zu scheuen, stört sie auch den
ruhigen Fluß der Erzählung. Um wie viel glücklicher ist darin der Engländer,
der gar keine Voraussetzungen zu machen hat, der mit der ganzen Frische
eines unmittelbaren Eindrucks ein Leben darstellen kann, das sich in seiner
ganzen Anlage zu einem harmonischen Kunstwerk eignet. Der deutsche Schrift¬
steller ist in der peinlichen Lage, fast bei jedem Werk Goethes, auch wo er
die wärmste Anerkennung ausspricht, sich gegen die Consequenzen zu verwahren,
die man allenfalls daraus ziehen könnte, denn jedes Werk von Goethe hat
unzählige Nachahmungen hervorgerufen, die, so fratzenhaft sie aussehn, doch
immer eine gewisse Verwandtschaft mit dem Original zeigen, die aller Welt
bekannt sind, und vor deren Princip man daher warnen muß, wenn man in
der Literatur keinen Schaden anstiften will. Der Engländer steht darin voll¬
kommen frei. Was geht es ihn an, ob Werther, Meister, Faust, Tasso u. s. w.
in Deutschland zu Charaktermasken geworden sind, hinter denen jeder beliebige
subter sein einfältiges Gesicht versteckt. Er freut sich des schönen Werks an
und für sich, ohne an seine weitern Folgen zu denken, und theilt seinen Lands¬
leuten mit aller Wärme, deren er fähig ist, diese Freude mit. — Ebenso nahe


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[0271] Menschenalter beschäftigen sich eine Reihe von Kunstfreunden und Gelehrten mit den Vorstudien zu Goethes Leben, und nun tritt ein Fremder auf und Pflücke die Frucht ab, bevor wir uns ein System darüber gebildet haben, wie sie am besten zu brechen sei. Wie dem auch sei, wir müssen anerkennen, daß das Unternehmen vollständig gerechtfertigt ist, und daß wir bis jetzt wenigstens ihm nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen haben. Folgendes möchten die Gründe sein, die uns bisher abgehalten haben, das Leben Goethes in der Art zu schreiben, wie es geschrieben werden soll, mit wissenschaftlicher Strenge und als ein Kunstwerk. Keiner von unsern Schriftstellern steht Goethe ganz unbefangen gegenüber. An Goethes Namen knüpft sich eine ganze Reihe von literarischen Parteifragen, die jeden mehr oder minder bewegt haben, und über die man seinem Herzen Luft zu machen sucht, sobald sich irgend eine Gelegenheit dazu bietet. Ohne zu große Uebertreibung kann man behaupten, daß jeder, der in Deutschland überhaupt etwas geschrieben, auch einmal etwas über Goethe geschrieben hat. Wenn es nun auch wol keinen in Deutschland geben mag, der alles gelesen hat, was über Goethe geschrieben ist, so schwebt doch jedem eine ziemliche Zahl der dahin einschlagenden Urtheile und Ansichten vor, und unwillkürlich sucht er sich ihnen gegenüber eine eigne Position zu geben. Der deutsche Biograph Goethes spricht nicht zu dem Volk, sondern zu den literarisch Gebildeten, um deren Urtheile zu berichtigen, zu erweitern, zu befestigen. Diese kritische Richtung ist für ein Kunstwerk nicht richtig; denn abgesehen davon, daß sie in der Regel den Schriftsteller verführt, in der Consequenz zu weit zu gehen, und um des Neuen willen die Paradorie nicht zu scheuen, stört sie auch den ruhigen Fluß der Erzählung. Um wie viel glücklicher ist darin der Engländer, der gar keine Voraussetzungen zu machen hat, der mit der ganzen Frische eines unmittelbaren Eindrucks ein Leben darstellen kann, das sich in seiner ganzen Anlage zu einem harmonischen Kunstwerk eignet. Der deutsche Schrift¬ steller ist in der peinlichen Lage, fast bei jedem Werk Goethes, auch wo er die wärmste Anerkennung ausspricht, sich gegen die Consequenzen zu verwahren, die man allenfalls daraus ziehen könnte, denn jedes Werk von Goethe hat unzählige Nachahmungen hervorgerufen, die, so fratzenhaft sie aussehn, doch immer eine gewisse Verwandtschaft mit dem Original zeigen, die aller Welt bekannt sind, und vor deren Princip man daher warnen muß, wenn man in der Literatur keinen Schaden anstiften will. Der Engländer steht darin voll¬ kommen frei. Was geht es ihn an, ob Werther, Meister, Faust, Tasso u. s. w. in Deutschland zu Charaktermasken geworden sind, hinter denen jeder beliebige subter sein einfältiges Gesicht versteckt. Er freut sich des schönen Werks an und für sich, ohne an seine weitern Folgen zu denken, und theilt seinen Lands¬ leuten mit aller Wärme, deren er fähig ist, diese Freude mit. — Ebenso nahe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/271>, abgerufen am 22.07.2024.