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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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sich auf irgend eine Art von Goethe zu unterscheiden; und dabei klingen einem
doch immer die goldenen Worte in das Ohr, deren Eindruck der neue Erzähler
doch nicht aufheben kann. Die Stellen aber einfach abdrucken zu lassen, geht
schon darum nicht, weil wir Goethe aus den Aktenstücken corrigiren können
und müssen, weil wir ihm nicht blos einzelne Irrthümer, sondern durchweg
eine falsche Färbung nachweisen können, Goethe schildert die Empfindungen
seiner Jugend nicht, wie er als Jüngling empfand, sondern wie er als Mann
darüber reflectirte; aber es ist ein wunderbarer, gewaltiger Zauberer. Auch
wenn wir die Briefe in der Hand haben, in denen sich die Jugendglut ganz
anders ausspricht, als in den Reminiscenzen des Alters, so schwebt uns doch
das Bild aus Dichtung und Wahrheit mit gleicher Stärke vor, und wir
haben einen doppelten Goethe vor Augen, den Goethe der Briefe und den
Goethe der Erinnerung. Wir wollen damit nicht behaupten, daß diese Schwie¬
rigkeit unüberwindlich sei; aber nur eine wahrhaft künstlerischr Natur wird sie
überwinden, und diese findet sich selten, am wenigsten uMr den Verehrern
Goethes, deren literarische Chorführer zu den ledernsten Menschen gehören,
die Deutschland kennt.

Noch ist eine Schwierigkeit zu erwähnen, die innige Verzweigung aller
Scenen des goetheschen Lebens mit dem Leben aller bedeutenden Männer
Deutschlands, die völlig abzuschneiden uns eine große Ueberwindung kostet.
Und doch ist es nothwendig, sich dazu zu entschließen, wenn man ernstlich
darauf ausgeht, ein abgerundetes, in sich selbst verständliches Lebensgemälde
zu geben, mit einem Wort, ein Kunstwerk. Zwar begegnen wir neuerdings
mehrfach nicht blos in historischen Schriften, sondern auch in Romanen, der
fehlerhaften Gewohnheit, daß der Schriftsteller fortwährend über den Kreis
hinausweist, mit dem er sich eigentlich beschäftigt, daß er sich auf Personen
und Zustände bezieht, die in seinem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen,
die er aber anderweitig mit größerer Ausführlichkeit geschildert hat. Allein
der eine Mißbrauch kam, den andern nicht rechtfertigen.

Will man aus dem Leben Goethes ein Kunstwerk machen, so muß man
nicht seine Dichtungen, sondern das, waS er gethan, erlebt oder erlitten hat,
zum Mittelpunkt der Darstellung erheben. Das ist ein Standpunkt, auf den
wir uns nur künstlich versetzen, der aber.für den Ausländer der natürliche
ist. Und so ist auch Herr Lewes in seinem Buch verfahren.

An Ausstellungen kann es auch hier nicht fehlen, allein folgende Vorzüge
finden wir in hohem Grade in ihm vereinigt. Einmal hat er ein äußerst
sorgfältiges und umfangreiches Quellenstudium gemacht, und wer sich auch
nur flüchtig mit der Goetheliteratur beschäftigt hat, weiß, was "daS sagen
will. Die Briefe Goethes selbst, namentlich aber die Briefe anderer, die sich
auf ihn beziehen, und die doch wichtig sind, die Stellung Goethes zu seiner


Gr-"zbolen. I. 1867. 3j

sich auf irgend eine Art von Goethe zu unterscheiden; und dabei klingen einem
doch immer die goldenen Worte in das Ohr, deren Eindruck der neue Erzähler
doch nicht aufheben kann. Die Stellen aber einfach abdrucken zu lassen, geht
schon darum nicht, weil wir Goethe aus den Aktenstücken corrigiren können
und müssen, weil wir ihm nicht blos einzelne Irrthümer, sondern durchweg
eine falsche Färbung nachweisen können, Goethe schildert die Empfindungen
seiner Jugend nicht, wie er als Jüngling empfand, sondern wie er als Mann
darüber reflectirte; aber es ist ein wunderbarer, gewaltiger Zauberer. Auch
wenn wir die Briefe in der Hand haben, in denen sich die Jugendglut ganz
anders ausspricht, als in den Reminiscenzen des Alters, so schwebt uns doch
das Bild aus Dichtung und Wahrheit mit gleicher Stärke vor, und wir
haben einen doppelten Goethe vor Augen, den Goethe der Briefe und den
Goethe der Erinnerung. Wir wollen damit nicht behaupten, daß diese Schwie¬
rigkeit unüberwindlich sei; aber nur eine wahrhaft künstlerischr Natur wird sie
überwinden, und diese findet sich selten, am wenigsten uMr den Verehrern
Goethes, deren literarische Chorführer zu den ledernsten Menschen gehören,
die Deutschland kennt.

Noch ist eine Schwierigkeit zu erwähnen, die innige Verzweigung aller
Scenen des goetheschen Lebens mit dem Leben aller bedeutenden Männer
Deutschlands, die völlig abzuschneiden uns eine große Ueberwindung kostet.
Und doch ist es nothwendig, sich dazu zu entschließen, wenn man ernstlich
darauf ausgeht, ein abgerundetes, in sich selbst verständliches Lebensgemälde
zu geben, mit einem Wort, ein Kunstwerk. Zwar begegnen wir neuerdings
mehrfach nicht blos in historischen Schriften, sondern auch in Romanen, der
fehlerhaften Gewohnheit, daß der Schriftsteller fortwährend über den Kreis
hinausweist, mit dem er sich eigentlich beschäftigt, daß er sich auf Personen
und Zustände bezieht, die in seinem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen,
die er aber anderweitig mit größerer Ausführlichkeit geschildert hat. Allein
der eine Mißbrauch kam, den andern nicht rechtfertigen.

Will man aus dem Leben Goethes ein Kunstwerk machen, so muß man
nicht seine Dichtungen, sondern das, waS er gethan, erlebt oder erlitten hat,
zum Mittelpunkt der Darstellung erheben. Das ist ein Standpunkt, auf den
wir uns nur künstlich versetzen, der aber.für den Ausländer der natürliche
ist. Und so ist auch Herr Lewes in seinem Buch verfahren.

An Ausstellungen kann es auch hier nicht fehlen, allein folgende Vorzüge
finden wir in hohem Grade in ihm vereinigt. Einmal hat er ein äußerst
sorgfältiges und umfangreiches Quellenstudium gemacht, und wer sich auch
nur flüchtig mit der Goetheliteratur beschäftigt hat, weiß, was »daS sagen
will. Die Briefe Goethes selbst, namentlich aber die Briefe anderer, die sich
auf ihn beziehen, und die doch wichtig sind, die Stellung Goethes zu seiner


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[0273] sich auf irgend eine Art von Goethe zu unterscheiden; und dabei klingen einem doch immer die goldenen Worte in das Ohr, deren Eindruck der neue Erzähler doch nicht aufheben kann. Die Stellen aber einfach abdrucken zu lassen, geht schon darum nicht, weil wir Goethe aus den Aktenstücken corrigiren können und müssen, weil wir ihm nicht blos einzelne Irrthümer, sondern durchweg eine falsche Färbung nachweisen können, Goethe schildert die Empfindungen seiner Jugend nicht, wie er als Jüngling empfand, sondern wie er als Mann darüber reflectirte; aber es ist ein wunderbarer, gewaltiger Zauberer. Auch wenn wir die Briefe in der Hand haben, in denen sich die Jugendglut ganz anders ausspricht, als in den Reminiscenzen des Alters, so schwebt uns doch das Bild aus Dichtung und Wahrheit mit gleicher Stärke vor, und wir haben einen doppelten Goethe vor Augen, den Goethe der Briefe und den Goethe der Erinnerung. Wir wollen damit nicht behaupten, daß diese Schwie¬ rigkeit unüberwindlich sei; aber nur eine wahrhaft künstlerischr Natur wird sie überwinden, und diese findet sich selten, am wenigsten uMr den Verehrern Goethes, deren literarische Chorführer zu den ledernsten Menschen gehören, die Deutschland kennt. Noch ist eine Schwierigkeit zu erwähnen, die innige Verzweigung aller Scenen des goetheschen Lebens mit dem Leben aller bedeutenden Männer Deutschlands, die völlig abzuschneiden uns eine große Ueberwindung kostet. Und doch ist es nothwendig, sich dazu zu entschließen, wenn man ernstlich darauf ausgeht, ein abgerundetes, in sich selbst verständliches Lebensgemälde zu geben, mit einem Wort, ein Kunstwerk. Zwar begegnen wir neuerdings mehrfach nicht blos in historischen Schriften, sondern auch in Romanen, der fehlerhaften Gewohnheit, daß der Schriftsteller fortwährend über den Kreis hinausweist, mit dem er sich eigentlich beschäftigt, daß er sich auf Personen und Zustände bezieht, die in seinem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen, die er aber anderweitig mit größerer Ausführlichkeit geschildert hat. Allein der eine Mißbrauch kam, den andern nicht rechtfertigen. Will man aus dem Leben Goethes ein Kunstwerk machen, so muß man nicht seine Dichtungen, sondern das, waS er gethan, erlebt oder erlitten hat, zum Mittelpunkt der Darstellung erheben. Das ist ein Standpunkt, auf den wir uns nur künstlich versetzen, der aber.für den Ausländer der natürliche ist. Und so ist auch Herr Lewes in seinem Buch verfahren. An Ausstellungen kann es auch hier nicht fehlen, allein folgende Vorzüge finden wir in hohem Grade in ihm vereinigt. Einmal hat er ein äußerst sorgfältiges und umfangreiches Quellenstudium gemacht, und wer sich auch nur flüchtig mit der Goetheliteratur beschäftigt hat, weiß, was »daS sagen will. Die Briefe Goethes selbst, namentlich aber die Briefe anderer, die sich auf ihn beziehen, und die doch wichtig sind, die Stellung Goethes zu seiner Gr-»zbolen. I. 1867. 3j

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/273>, abgerufen am 22.12.2024.