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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Uebersehen wir nun die Wirkungen des Buchs, so stellen sich dieselben am
deutlichsten nach zwei Seiten heraus. Einmal wurde die liberale Idee, die
an sich niemals untergegangen war, jetzt wieder historisch gerechtfertigt. Der
Liberalismus erfuhr, daß er sich seiner Geschichte nicht zu schämen habe. Die
dreifarbige Cocarde wurde vom Blut des Schreckenssystems rein gewaschen,
man konnte sich vor der guten Gesellschaft wieder damit zeigen. Dies war
die beste Wirkung des Buchs.

Bedenklicher war eine zweite: Mehr als irgend ein anderer Schriftsteller
hat Mignet das liberale Publicum daran gewöhnt, es mit dem politischen
Gewissen leicht zu nehmen. Persönlich verabscheute er die Greuelthaten von
1793 aufs höchste; aber er weiß sich mit den Umständen abzufinden. Er stellt
die Geschichte wie einer dar, der während der Revolution zuerst zu Lafayette,
dann zu Brissot, dann zu Danton, zum Wohlfahrtsausschuß, zu den Thermi-
doriern, zu Bonaparte, zum Kaiser gehalten hätte, und der endlich mit bete
bekannten Marschällen ins Lager der Restauration übergegangen wäre. Solche
Männer gab es in der That, Männer, an denen persönlich kein Flecken haf¬
tete, die sich aber in Perioden der Leidenschaft überall der leidenschaftlichsten
Partei anschlössen, weil diese zugleich die stärkste war. Aber daß es solche
Männer gab, daß es sie in einer so großen Zahl gab, und daß sie mit so
großen Talenten ausgestattet waren, das war grade der Grund, warum die
Revolution einen so unheilvollen Verlauf nahm. Alle Achtung vor ihrer
Einsicht, sie waren doch nur politische Mantelträger, und es ist sehr schlimm,
wenn in den Mantelträgern der Kern der politischen Einsicht gesucht wird.

Mignet hat das Publicum daran gewöhnt, die Ereignisse der Revolution
mit dem bloßen Verstände zu betrachten und nur die Abstractionen der einzelnen
Parteien durch einen scheinbar logischen Faden miteinander zu verknüpfen.
Würde er heute die Fortsetzung schreiben, so würde es ihm ebenso leicht werden,
dieselbe Nothwendigkeit des Naturprocesses auch in dem weitern Verlauf zu
entwickeln; aber der Gedanke, der ihm eigentlich bei diesem Beweis vorschwebte,
daß der Fortschritt immer zum Bessern stattfindet, ist durch die Geschichte wider¬
legt. Auch wir sind in Deutschland durch die hegelsche Schule zu sehr daran
gewöhnt worden, die Logik nach den Thatsachen, das Recht nach dem Erfolg
zu beurtheilen; es wird zweckmäßig sein, wenn wir dem Gewissen und dem
unmittelbaren Rechtsgefühl wieder die Stelle zurückgeben, die ihm auch in der
Geschichte gebührt.

Wenn Mignet die Revolution als Systematiker vertheidigte, so gewann
dagegen Thiers in seinem Werk, das 1823 bis 1827 erschien, die Menge
durch den Glanz der Darstellung. Das Unternehmen sah zuerst unscheinbar
aus. Ein bekannter Vielschreiber, Felir Botin, hatte ihn aufgefordert, die
Geschichte kurz und gemeinfaßlich für eine Sammlung ähnlicher Werke zu be-


Uebersehen wir nun die Wirkungen des Buchs, so stellen sich dieselben am
deutlichsten nach zwei Seiten heraus. Einmal wurde die liberale Idee, die
an sich niemals untergegangen war, jetzt wieder historisch gerechtfertigt. Der
Liberalismus erfuhr, daß er sich seiner Geschichte nicht zu schämen habe. Die
dreifarbige Cocarde wurde vom Blut des Schreckenssystems rein gewaschen,
man konnte sich vor der guten Gesellschaft wieder damit zeigen. Dies war
die beste Wirkung des Buchs.

Bedenklicher war eine zweite: Mehr als irgend ein anderer Schriftsteller
hat Mignet das liberale Publicum daran gewöhnt, es mit dem politischen
Gewissen leicht zu nehmen. Persönlich verabscheute er die Greuelthaten von
1793 aufs höchste; aber er weiß sich mit den Umständen abzufinden. Er stellt
die Geschichte wie einer dar, der während der Revolution zuerst zu Lafayette,
dann zu Brissot, dann zu Danton, zum Wohlfahrtsausschuß, zu den Thermi-
doriern, zu Bonaparte, zum Kaiser gehalten hätte, und der endlich mit bete
bekannten Marschällen ins Lager der Restauration übergegangen wäre. Solche
Männer gab es in der That, Männer, an denen persönlich kein Flecken haf¬
tete, die sich aber in Perioden der Leidenschaft überall der leidenschaftlichsten
Partei anschlössen, weil diese zugleich die stärkste war. Aber daß es solche
Männer gab, daß es sie in einer so großen Zahl gab, und daß sie mit so
großen Talenten ausgestattet waren, das war grade der Grund, warum die
Revolution einen so unheilvollen Verlauf nahm. Alle Achtung vor ihrer
Einsicht, sie waren doch nur politische Mantelträger, und es ist sehr schlimm,
wenn in den Mantelträgern der Kern der politischen Einsicht gesucht wird.

Mignet hat das Publicum daran gewöhnt, die Ereignisse der Revolution
mit dem bloßen Verstände zu betrachten und nur die Abstractionen der einzelnen
Parteien durch einen scheinbar logischen Faden miteinander zu verknüpfen.
Würde er heute die Fortsetzung schreiben, so würde es ihm ebenso leicht werden,
dieselbe Nothwendigkeit des Naturprocesses auch in dem weitern Verlauf zu
entwickeln; aber der Gedanke, der ihm eigentlich bei diesem Beweis vorschwebte,
daß der Fortschritt immer zum Bessern stattfindet, ist durch die Geschichte wider¬
legt. Auch wir sind in Deutschland durch die hegelsche Schule zu sehr daran
gewöhnt worden, die Logik nach den Thatsachen, das Recht nach dem Erfolg
zu beurtheilen; es wird zweckmäßig sein, wenn wir dem Gewissen und dem
unmittelbaren Rechtsgefühl wieder die Stelle zurückgeben, die ihm auch in der
Geschichte gebührt.

Wenn Mignet die Revolution als Systematiker vertheidigte, so gewann
dagegen Thiers in seinem Werk, das 1823 bis 1827 erschien, die Menge
durch den Glanz der Darstellung. Das Unternehmen sah zuerst unscheinbar
aus. Ein bekannter Vielschreiber, Felir Botin, hatte ihn aufgefordert, die
Geschichte kurz und gemeinfaßlich für eine Sammlung ähnlicher Werke zu be-


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[0214] Uebersehen wir nun die Wirkungen des Buchs, so stellen sich dieselben am deutlichsten nach zwei Seiten heraus. Einmal wurde die liberale Idee, die an sich niemals untergegangen war, jetzt wieder historisch gerechtfertigt. Der Liberalismus erfuhr, daß er sich seiner Geschichte nicht zu schämen habe. Die dreifarbige Cocarde wurde vom Blut des Schreckenssystems rein gewaschen, man konnte sich vor der guten Gesellschaft wieder damit zeigen. Dies war die beste Wirkung des Buchs. Bedenklicher war eine zweite: Mehr als irgend ein anderer Schriftsteller hat Mignet das liberale Publicum daran gewöhnt, es mit dem politischen Gewissen leicht zu nehmen. Persönlich verabscheute er die Greuelthaten von 1793 aufs höchste; aber er weiß sich mit den Umständen abzufinden. Er stellt die Geschichte wie einer dar, der während der Revolution zuerst zu Lafayette, dann zu Brissot, dann zu Danton, zum Wohlfahrtsausschuß, zu den Thermi- doriern, zu Bonaparte, zum Kaiser gehalten hätte, und der endlich mit bete bekannten Marschällen ins Lager der Restauration übergegangen wäre. Solche Männer gab es in der That, Männer, an denen persönlich kein Flecken haf¬ tete, die sich aber in Perioden der Leidenschaft überall der leidenschaftlichsten Partei anschlössen, weil diese zugleich die stärkste war. Aber daß es solche Männer gab, daß es sie in einer so großen Zahl gab, und daß sie mit so großen Talenten ausgestattet waren, das war grade der Grund, warum die Revolution einen so unheilvollen Verlauf nahm. Alle Achtung vor ihrer Einsicht, sie waren doch nur politische Mantelträger, und es ist sehr schlimm, wenn in den Mantelträgern der Kern der politischen Einsicht gesucht wird. Mignet hat das Publicum daran gewöhnt, die Ereignisse der Revolution mit dem bloßen Verstände zu betrachten und nur die Abstractionen der einzelnen Parteien durch einen scheinbar logischen Faden miteinander zu verknüpfen. Würde er heute die Fortsetzung schreiben, so würde es ihm ebenso leicht werden, dieselbe Nothwendigkeit des Naturprocesses auch in dem weitern Verlauf zu entwickeln; aber der Gedanke, der ihm eigentlich bei diesem Beweis vorschwebte, daß der Fortschritt immer zum Bessern stattfindet, ist durch die Geschichte wider¬ legt. Auch wir sind in Deutschland durch die hegelsche Schule zu sehr daran gewöhnt worden, die Logik nach den Thatsachen, das Recht nach dem Erfolg zu beurtheilen; es wird zweckmäßig sein, wenn wir dem Gewissen und dem unmittelbaren Rechtsgefühl wieder die Stelle zurückgeben, die ihm auch in der Geschichte gebührt. Wenn Mignet die Revolution als Systematiker vertheidigte, so gewann dagegen Thiers in seinem Werk, das 1823 bis 1827 erschien, die Menge durch den Glanz der Darstellung. Das Unternehmen sah zuerst unscheinbar aus. Ein bekannter Vielschreiber, Felir Botin, hatte ihn aufgefordert, die Geschichte kurz und gemeinfaßlich für eine Sammlung ähnlicher Werke zu be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/214>, abgerufen am 23.07.2024.