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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Regierung nicht einigen, so hat letztere nur ein suspensives Veto, aber der
Beschluß der Versammlung muß in drei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden
angenommen werden d. h. durch drei verschiedene Voden, zwischen denen jedes¬
mal ein Zeitraum von vier Jahren liegt.

Das repräsentative System ist in Brasilien in der ganzen Stufenfolge
der berathenden Versammlungen in Kraft, jede Provinz, jede Gemeinde hat
so gut ihre erwählten Vertreter, wie der Kaiserstaat als Ganzes. Die Decen-
tralisation ist vollkommen ausgebildet und wenn dieselbe unzweifelhaft über¬
haupt die Grundlage aller Selbstregierung ist, so ist sie noch unbedingter für
Brasilien nothwendig, als für irgend ein andres Land. Unter seinen Provinzen,
von deren Ausdehnung die Rede war, sind einige durch ihre Entfernung von
der Hauptstadt und die Mangelhaftigkeit der Verbindungsstraßen ganz der
directen Einwirkung der Centralregierung entzogen. Das einzige Mittel,
dort eine politische Organisation zu schaffen >und die Idee einer Absonderung
vom Ganzen fern zu halten, war, ihnen ein selbstständiges eigenes Leben zu
geben.

Der letzte Artikel der Verfassung 179 ist eine "Erklärung der Rechte",
gewiß die vollständigste und wenigst metaphysische Aufzeichnung bürgerlicher
Grundrechte. Folgendes sind die Hauptbeftimmungen:

§. l. Kein Bürger ist verpflichtet etwas zu thun oder etwas zu lassen,
außer Kraft eines Gesetzes.

K. 3. Kein Gesetz darf rückwirkende Kraft haben.

§. 4. Jeder kann seine Gedanken durch Wort, Schrift und Veröffent¬
lichung in der Presse ohne Censur mittheilen und ist nur für solchen Mißbrauch
dieses Rechtes verantwortlich, den das Gesetz bestimmt.

§. 5. Niemand kann aus Rücksichten der Religion verfolgt werden,
wenn er die Staatsreligion respectirt und der öffentlichen Sittlichkeit keinen
Anstoß gibt.

§. 6. Jeder kann nach Belieben im Reiche bleiben oder dasselbe verlassen
und seine Habe mit sich nehmen, wenn er nur die polizeilichen Vorschriften
beobachtet und keine Rechte dritter verletzt (z. B. sich seiner Schuldverbindlich¬
keit durch Flucht entzieht).

§. 7. Jeder Bürger hat in seinem Hause ein unverletzliches Asyl. Bei
Nacht darf niemand ohne seine Einwilligung bei ihm eintreten, außer im Falle
einer Feuersbrunst oder Ueberschwemmung und bei Tage nur in solchen Fällen,
die das Gesetz bestimmt.

ß. 8- Niemand darf verhaftet werden, ohne daß sein Vergehen constatirt
ist, ausgenommen in den gesetzlich bestimmten Fällen, und in diesen soll der
Richter dem Schuldigen binnen 2i Stunden in Städten oder vom Sitz der
Justiz nicht entfernten Orten, und in den entfernter" Orten in einem ange-


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Regierung nicht einigen, so hat letztere nur ein suspensives Veto, aber der
Beschluß der Versammlung muß in drei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden
angenommen werden d. h. durch drei verschiedene Voden, zwischen denen jedes¬
mal ein Zeitraum von vier Jahren liegt.

Das repräsentative System ist in Brasilien in der ganzen Stufenfolge
der berathenden Versammlungen in Kraft, jede Provinz, jede Gemeinde hat
so gut ihre erwählten Vertreter, wie der Kaiserstaat als Ganzes. Die Decen-
tralisation ist vollkommen ausgebildet und wenn dieselbe unzweifelhaft über¬
haupt die Grundlage aller Selbstregierung ist, so ist sie noch unbedingter für
Brasilien nothwendig, als für irgend ein andres Land. Unter seinen Provinzen,
von deren Ausdehnung die Rede war, sind einige durch ihre Entfernung von
der Hauptstadt und die Mangelhaftigkeit der Verbindungsstraßen ganz der
directen Einwirkung der Centralregierung entzogen. Das einzige Mittel,
dort eine politische Organisation zu schaffen >und die Idee einer Absonderung
vom Ganzen fern zu halten, war, ihnen ein selbstständiges eigenes Leben zu
geben.

Der letzte Artikel der Verfassung 179 ist eine „Erklärung der Rechte",
gewiß die vollständigste und wenigst metaphysische Aufzeichnung bürgerlicher
Grundrechte. Folgendes sind die Hauptbeftimmungen:

§. l. Kein Bürger ist verpflichtet etwas zu thun oder etwas zu lassen,
außer Kraft eines Gesetzes.

K. 3. Kein Gesetz darf rückwirkende Kraft haben.

§. 4. Jeder kann seine Gedanken durch Wort, Schrift und Veröffent¬
lichung in der Presse ohne Censur mittheilen und ist nur für solchen Mißbrauch
dieses Rechtes verantwortlich, den das Gesetz bestimmt.

§. 5. Niemand kann aus Rücksichten der Religion verfolgt werden,
wenn er die Staatsreligion respectirt und der öffentlichen Sittlichkeit keinen
Anstoß gibt.

§. 6. Jeder kann nach Belieben im Reiche bleiben oder dasselbe verlassen
und seine Habe mit sich nehmen, wenn er nur die polizeilichen Vorschriften
beobachtet und keine Rechte dritter verletzt (z. B. sich seiner Schuldverbindlich¬
keit durch Flucht entzieht).

§. 7. Jeder Bürger hat in seinem Hause ein unverletzliches Asyl. Bei
Nacht darf niemand ohne seine Einwilligung bei ihm eintreten, außer im Falle
einer Feuersbrunst oder Ueberschwemmung und bei Tage nur in solchen Fällen,
die das Gesetz bestimmt.

ß. 8- Niemand darf verhaftet werden, ohne daß sein Vergehen constatirt
ist, ausgenommen in den gesetzlich bestimmten Fällen, und in diesen soll der
Richter dem Schuldigen binnen 2i Stunden in Städten oder vom Sitz der
Justiz nicht entfernten Orten, und in den entfernter» Orten in einem ange-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/19>, abgerufen am 25.08.2024.