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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Geschichte noch alle Gebildeten auf das lebhafteste beschäftigte, wo selbst die
Gegner genöthigt waren, auf die philosophischen Voraussetzungen einzugehen
und sich die philosophische Terminologie anzueignen. Seit der Zeit hat sich
eine leidenschaftliche Reaction dagegen erhoben, und es scheint ein wahrer
Wetteifer eingetreten zu sein, wer am beredtesten und leidenschaftlichsten sein
Zeugniß gegen diesen Antichrist ablegen könne. Nehmen wir nun diesen Auf¬
satz aus dem Jahr 1837 zur Hand, in dem wir keine Spur leidenschaftlicher
Bewegung antreffen, am wenigsten religiöse Scrupel, in dem vielmehr die
Sache ruhig, kühl, geschäftsmäßig abgehandelt wird, so werden wir mit Ver¬
wunderung wahrnehmen, daß die neueste Zeit keinen einzigen Gedanken auf¬
gestellt hat, der zur Sache gehörte und der hier nicht schon ausgesprochen
wäre. Der Aufsatz über die religiösen Wirren fällt in die Jahre 18i2 und
1853, also in eine Zeit, wo jedermann sich verpflichtet fühlte, im Gegensatz
zu Hengstenberg und Strauß, zu Tholuck und Feuerbach ein eignes Glaubens¬
bekenntnis) aufzustellen und sich in der Schriftauslegung zu versuchen. Gagern
wußte damals schon sehr gut und sprach es aus, daß man einem vernünftige"
Menschen so etwas nicht zumuthen könne, daß es nicht darauf ankäme, die
Schrift auszulegen, sondern den Thatbestand der religiösen Gesinnung fest¬
zustellen und danach seine Maßregeln zu treffen. sehr weltlich! wird man
heutzutage sagen, und doch sind die weltlichen Gesichtspunkte die einzigen, die
auch in Beziehung auf die himmlischen Dinge einen Austrag gestatten.

Wahre Perlen sind die beiden Aufsätze über Napoleon und Wellington
und der Brief eines kleinstaatlichen Diplomaten an seines Gleichen, den wir in
diesen Blättern bereits mitgetheilt haben. Auch aus jener Parallele haben wir
Einiges angeführt, doch liegt die glänzendste Seite derselben grade in der
Gegenüberstellung der beiden Charaktere, in denen sich der Begriff eines that¬
kräftigen Mannes in seinen beiden entgegengesetzten Polen entwickelt. Die
Charakteristik ist nur kurz, aber sie ist erschöpfend, denn es sind die wesent¬
lichen Gesichtspunkte schlagend hervorgehoben. Von Napoleon sagt er: "Er
kannte die Menschen und verschmähte kein Mittel, auf sie zu wirken. Er
schmeichelte der Eitelkeit, der Ruhmsucht seines Volkes, und gab ihm die
Gleichheit, welche für den Wettlauf auf der Bahn des Glücks jedem die
Schranken öffnete. Er hat den Muth und die Stärke deS Löwen, aber auch
die Schlauheit des Fuchses. Er war fürchterlich in seinem Zorn, aber wo er
gewinnen wollte, besaß er die Kunst, durch Liebenswürdigkeit zu bezaubern.
Bon sich selbst hat er gesagt, daß er sein Herz nie in der Brust habe klopfen
gefühlt. Kein Element der Macht achtet er gering, er weiß, daß die Summe
aus Procenten besteht; er geht in alle Einzelheiten ein, überzeugt sich mit
eignen Augen, macht sich alle brauchbaren Werkzeuge dienstbar; und erst nach¬
dem er alles vorbereitet hat, was den Erfolg versichern kann, verläßt er den


Geschichte noch alle Gebildeten auf das lebhafteste beschäftigte, wo selbst die
Gegner genöthigt waren, auf die philosophischen Voraussetzungen einzugehen
und sich die philosophische Terminologie anzueignen. Seit der Zeit hat sich
eine leidenschaftliche Reaction dagegen erhoben, und es scheint ein wahrer
Wetteifer eingetreten zu sein, wer am beredtesten und leidenschaftlichsten sein
Zeugniß gegen diesen Antichrist ablegen könne. Nehmen wir nun diesen Auf¬
satz aus dem Jahr 1837 zur Hand, in dem wir keine Spur leidenschaftlicher
Bewegung antreffen, am wenigsten religiöse Scrupel, in dem vielmehr die
Sache ruhig, kühl, geschäftsmäßig abgehandelt wird, so werden wir mit Ver¬
wunderung wahrnehmen, daß die neueste Zeit keinen einzigen Gedanken auf¬
gestellt hat, der zur Sache gehörte und der hier nicht schon ausgesprochen
wäre. Der Aufsatz über die religiösen Wirren fällt in die Jahre 18i2 und
1853, also in eine Zeit, wo jedermann sich verpflichtet fühlte, im Gegensatz
zu Hengstenberg und Strauß, zu Tholuck und Feuerbach ein eignes Glaubens¬
bekenntnis) aufzustellen und sich in der Schriftauslegung zu versuchen. Gagern
wußte damals schon sehr gut und sprach es aus, daß man einem vernünftige«
Menschen so etwas nicht zumuthen könne, daß es nicht darauf ankäme, die
Schrift auszulegen, sondern den Thatbestand der religiösen Gesinnung fest¬
zustellen und danach seine Maßregeln zu treffen. sehr weltlich! wird man
heutzutage sagen, und doch sind die weltlichen Gesichtspunkte die einzigen, die
auch in Beziehung auf die himmlischen Dinge einen Austrag gestatten.

Wahre Perlen sind die beiden Aufsätze über Napoleon und Wellington
und der Brief eines kleinstaatlichen Diplomaten an seines Gleichen, den wir in
diesen Blättern bereits mitgetheilt haben. Auch aus jener Parallele haben wir
Einiges angeführt, doch liegt die glänzendste Seite derselben grade in der
Gegenüberstellung der beiden Charaktere, in denen sich der Begriff eines that¬
kräftigen Mannes in seinen beiden entgegengesetzten Polen entwickelt. Die
Charakteristik ist nur kurz, aber sie ist erschöpfend, denn es sind die wesent¬
lichen Gesichtspunkte schlagend hervorgehoben. Von Napoleon sagt er: „Er
kannte die Menschen und verschmähte kein Mittel, auf sie zu wirken. Er
schmeichelte der Eitelkeit, der Ruhmsucht seines Volkes, und gab ihm die
Gleichheit, welche für den Wettlauf auf der Bahn des Glücks jedem die
Schranken öffnete. Er hat den Muth und die Stärke deS Löwen, aber auch
die Schlauheit des Fuchses. Er war fürchterlich in seinem Zorn, aber wo er
gewinnen wollte, besaß er die Kunst, durch Liebenswürdigkeit zu bezaubern.
Bon sich selbst hat er gesagt, daß er sein Herz nie in der Brust habe klopfen
gefühlt. Kein Element der Macht achtet er gering, er weiß, daß die Summe
aus Procenten besteht; er geht in alle Einzelheiten ein, überzeugt sich mit
eignen Augen, macht sich alle brauchbaren Werkzeuge dienstbar; und erst nach¬
dem er alles vorbereitet hat, was den Erfolg versichern kann, verläßt er den


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[0189] Geschichte noch alle Gebildeten auf das lebhafteste beschäftigte, wo selbst die Gegner genöthigt waren, auf die philosophischen Voraussetzungen einzugehen und sich die philosophische Terminologie anzueignen. Seit der Zeit hat sich eine leidenschaftliche Reaction dagegen erhoben, und es scheint ein wahrer Wetteifer eingetreten zu sein, wer am beredtesten und leidenschaftlichsten sein Zeugniß gegen diesen Antichrist ablegen könne. Nehmen wir nun diesen Auf¬ satz aus dem Jahr 1837 zur Hand, in dem wir keine Spur leidenschaftlicher Bewegung antreffen, am wenigsten religiöse Scrupel, in dem vielmehr die Sache ruhig, kühl, geschäftsmäßig abgehandelt wird, so werden wir mit Ver¬ wunderung wahrnehmen, daß die neueste Zeit keinen einzigen Gedanken auf¬ gestellt hat, der zur Sache gehörte und der hier nicht schon ausgesprochen wäre. Der Aufsatz über die religiösen Wirren fällt in die Jahre 18i2 und 1853, also in eine Zeit, wo jedermann sich verpflichtet fühlte, im Gegensatz zu Hengstenberg und Strauß, zu Tholuck und Feuerbach ein eignes Glaubens¬ bekenntnis) aufzustellen und sich in der Schriftauslegung zu versuchen. Gagern wußte damals schon sehr gut und sprach es aus, daß man einem vernünftige« Menschen so etwas nicht zumuthen könne, daß es nicht darauf ankäme, die Schrift auszulegen, sondern den Thatbestand der religiösen Gesinnung fest¬ zustellen und danach seine Maßregeln zu treffen. sehr weltlich! wird man heutzutage sagen, und doch sind die weltlichen Gesichtspunkte die einzigen, die auch in Beziehung auf die himmlischen Dinge einen Austrag gestatten. Wahre Perlen sind die beiden Aufsätze über Napoleon und Wellington und der Brief eines kleinstaatlichen Diplomaten an seines Gleichen, den wir in diesen Blättern bereits mitgetheilt haben. Auch aus jener Parallele haben wir Einiges angeführt, doch liegt die glänzendste Seite derselben grade in der Gegenüberstellung der beiden Charaktere, in denen sich der Begriff eines that¬ kräftigen Mannes in seinen beiden entgegengesetzten Polen entwickelt. Die Charakteristik ist nur kurz, aber sie ist erschöpfend, denn es sind die wesent¬ lichen Gesichtspunkte schlagend hervorgehoben. Von Napoleon sagt er: „Er kannte die Menschen und verschmähte kein Mittel, auf sie zu wirken. Er schmeichelte der Eitelkeit, der Ruhmsucht seines Volkes, und gab ihm die Gleichheit, welche für den Wettlauf auf der Bahn des Glücks jedem die Schranken öffnete. Er hat den Muth und die Stärke deS Löwen, aber auch die Schlauheit des Fuchses. Er war fürchterlich in seinem Zorn, aber wo er gewinnen wollte, besaß er die Kunst, durch Liebenswürdigkeit zu bezaubern. Bon sich selbst hat er gesagt, daß er sein Herz nie in der Brust habe klopfen gefühlt. Kein Element der Macht achtet er gering, er weiß, daß die Summe aus Procenten besteht; er geht in alle Einzelheiten ein, überzeugt sich mit eignen Augen, macht sich alle brauchbaren Werkzeuge dienstbar; und erst nach¬ dem er alles vorbereitet hat, was den Erfolg versichern kann, verläßt er den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/189>, abgerufen am 25.08.2024.