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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Schmerz verwandelt sich leicht in Bitterkeit. Die Wechsel des Schicksals trägt
er mit Standhaftigkeit."

Diese praktische Richtung aller seiner Gedanken und Empfindungen spricht
sich auch in den übrigen Aufsätzen aus, die fast sämmtliche Gebiete der mensch¬
lichen Interessen berühren. Gagern hat eine sehr vielseitige Bildung, und es
gibt fast keine Frage des öffentlichen Lebens, die ihn nicht zu irgend einer
Zeit beschäftigt hätte; aber der Aufwand von speculativem Geist, Witz und
Scharfsinn, den man in Deutschland daran zu verschwenden Pflegt, läßt ihn
kalt, und ohne den Versuch zu machen, durch ein ähnliches Aufgebot geistiger
Kräfte seine Gegner zu widerlegen, beseitigt er mit einigen kühnen, sichern
Strichen alle unnützen Zuthaten, die den Geist eigentlich nur spielend be¬
schäftigen, und geht schnell auf den Kern der Sache ein, den er mit geübter
Hand losschält: schlicht und einfach, ja in der Regel etwas nüchtern -- ein be¬
liebter Feuilletonist wäre er nicht geworden; aber überzeugend für jede klare
Einsicht. Er hat nicht die Consequenz der Abstraction, die sich in eine ein¬
seitige, vielleicht selbst erfundene Idee so weit vertieft, daß sie in der Welt
nichts Anderes mehr wahrnimmt; er weiß, daß die Wirklichkeit viele Seiten
hat, und läßt keine derselben unbeachtet, aber er bleibt nicht, wie die gewöhn¬
lichen Empiriker, die durch die Masse der Gesichtspunkte zuletzt alle Fähigkeit
verlieren, ein Endresultat zu ziehen, bei der Freude über die Mannigfaltigkeit
dieser Entdeckungen stehen, sondern er hält an dem großen Princip fest, daß
man bei jeder entscheidenden Wahl etwas Wünschenswertheö, vielleicht auch
Wichtiges aufopfern muß, und daß es nur darauf ankommt, sich schnell dar¬
über aufzuklären, welche von zwei Seiten die wichtigere sei. Um den Werth
dieser Aufsätze, z. B. über die öffentliche Meinung, über die Geschwornen,
über den Unterschied der Stände, über die rechte Mitte u. s. w. richtig zu
würdigen, muß man in Anschlag bringen, daß sie zum Theil aus den zwan¬
ziger, meist aus den dreißiger Jahren herrühren. Seit dieser Zeit sind viele
nebelhafte Vorstellungen zerstreut, viele thörichte Illusionen aufgegeben, wir
sind im bestimmten und gesetzmäßigen Denken viel weiter gekommen, und doch
wenn wir jetzt in allen jenen Fragen von unserm Nachdenken das Facit ziehen,
so werden wir fast überall finden, daß Gagern uns nicht blos in Bezug auf
das Materielle des Urtheils, sondern auch in dem präcisen Ausdruck voran¬
geeilt ist. Er stand über seiner Zeit, und die Zukunft wird ihn als einen
ihrer Führer ehren.

Für uns, die wir der Literatur ein vorzügliches Interesse schenken, sind
zwei Aufsätze höchst interessant: über das Verhältniß der Geschichte zur Philo¬
sophie, und über die Aufgabe des StaatsamnnS bei den religiösen Bewegungen
unserer Zeit, S. 306 und S83, Der erste Aufsatz war 1837 geschrieben, also
in einer Periode, wo die Philosophie und namentlich die Philosophie der


Schmerz verwandelt sich leicht in Bitterkeit. Die Wechsel des Schicksals trägt
er mit Standhaftigkeit."

Diese praktische Richtung aller seiner Gedanken und Empfindungen spricht
sich auch in den übrigen Aufsätzen aus, die fast sämmtliche Gebiete der mensch¬
lichen Interessen berühren. Gagern hat eine sehr vielseitige Bildung, und es
gibt fast keine Frage des öffentlichen Lebens, die ihn nicht zu irgend einer
Zeit beschäftigt hätte; aber der Aufwand von speculativem Geist, Witz und
Scharfsinn, den man in Deutschland daran zu verschwenden Pflegt, läßt ihn
kalt, und ohne den Versuch zu machen, durch ein ähnliches Aufgebot geistiger
Kräfte seine Gegner zu widerlegen, beseitigt er mit einigen kühnen, sichern
Strichen alle unnützen Zuthaten, die den Geist eigentlich nur spielend be¬
schäftigen, und geht schnell auf den Kern der Sache ein, den er mit geübter
Hand losschält: schlicht und einfach, ja in der Regel etwas nüchtern — ein be¬
liebter Feuilletonist wäre er nicht geworden; aber überzeugend für jede klare
Einsicht. Er hat nicht die Consequenz der Abstraction, die sich in eine ein¬
seitige, vielleicht selbst erfundene Idee so weit vertieft, daß sie in der Welt
nichts Anderes mehr wahrnimmt; er weiß, daß die Wirklichkeit viele Seiten
hat, und läßt keine derselben unbeachtet, aber er bleibt nicht, wie die gewöhn¬
lichen Empiriker, die durch die Masse der Gesichtspunkte zuletzt alle Fähigkeit
verlieren, ein Endresultat zu ziehen, bei der Freude über die Mannigfaltigkeit
dieser Entdeckungen stehen, sondern er hält an dem großen Princip fest, daß
man bei jeder entscheidenden Wahl etwas Wünschenswertheö, vielleicht auch
Wichtiges aufopfern muß, und daß es nur darauf ankommt, sich schnell dar¬
über aufzuklären, welche von zwei Seiten die wichtigere sei. Um den Werth
dieser Aufsätze, z. B. über die öffentliche Meinung, über die Geschwornen,
über den Unterschied der Stände, über die rechte Mitte u. s. w. richtig zu
würdigen, muß man in Anschlag bringen, daß sie zum Theil aus den zwan¬
ziger, meist aus den dreißiger Jahren herrühren. Seit dieser Zeit sind viele
nebelhafte Vorstellungen zerstreut, viele thörichte Illusionen aufgegeben, wir
sind im bestimmten und gesetzmäßigen Denken viel weiter gekommen, und doch
wenn wir jetzt in allen jenen Fragen von unserm Nachdenken das Facit ziehen,
so werden wir fast überall finden, daß Gagern uns nicht blos in Bezug auf
das Materielle des Urtheils, sondern auch in dem präcisen Ausdruck voran¬
geeilt ist. Er stand über seiner Zeit, und die Zukunft wird ihn als einen
ihrer Führer ehren.

Für uns, die wir der Literatur ein vorzügliches Interesse schenken, sind
zwei Aufsätze höchst interessant: über das Verhältniß der Geschichte zur Philo¬
sophie, und über die Aufgabe des StaatsamnnS bei den religiösen Bewegungen
unserer Zeit, S. 306 und S83, Der erste Aufsatz war 1837 geschrieben, also
in einer Periode, wo die Philosophie und namentlich die Philosophie der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/188>, abgerufen am 22.12.2024.