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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Deutschland, und als es fertig war, ergab sich zum allgemeinen Erstaunen,
daß diese Entwicklung über die Schranke des Sitzungssaals nicht hinaus¬
gegangen war. Es war im Grunde bei der großen französischen Revolution
nicht anders. Die weisen Männer der Constituante, der Legislative und des
Convents haben die vortrefflichsten Ideen entwickelt, aber diese Ideen wurden
als schätzbares Material bei Seite gelegt, und die entscheidenden Fortschritte
der Revolution knüpfen sich an den 14. Juli, den S. October, den 10. August,
den A. Juni; schließlich an den 9. Thermidor und den 18. Brumaire. Solchen
Tagen Widerstand zu leisten oder sie auszubeuten, bedarf es Männer, wie
wir uns Gagern vorstellen; bloße parlamentarische Redner sind dem Umschwung
der Zeiten nicht gewachsen.

Allein es wäre müßig, sich den bittern Empfindungen zu überlassen, die
ein solcher Verlust in uns erregt. Wir wollen lieber versuchen, aus den noch
unfertigen Ideen, die uns dieser ausgezeichnete Mann hinterlassen hat, Nutzen
für unsere eigne Zukunft zu ziehen. Der Schlüssel zu seinem ganzen Wesen
ist der letzte kleine Aufsatz S. 616: Der Mann der That. Er schildert darin
nicht blos das Ideal, das ihm vorschwebte, sondern sich selbst mit allen Ein¬
zelheiten. Es ist an und für sich betrachtet ein glänzendes Bild, die Frucht
eines reifen Nachdenkens und einer klaren, ruhigen Selbstbeobachtung. Wir
wollen hier nur einige Züge anführen, die für das Verständniß des Uebrigen
wesentlich sind. "Sein Heller Verstand ist durch wohlgeleiteten Unterricht reich¬
lich ausgestattet; und die Kenntnisse sind in dem Kopfe wohlgeordnet; denn
mit durchdringendem Scharfsinn weiß er das Verworrene aufzulösen, das
Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern, die Schnörkel der Wissenschaften
abzuschneiden und das, woraus es ankommt, auf den einfachsten Ausdruck
zurückzuführen." "Er hat wenig Geschmack, die Erfindungskraft ist gering,
und das Spiel der Phantasie ganz dem Willen unterworfen." "Seine Ueber¬
zeugungen sind unabhängig und fest, aber auch Andersdenkende hört er gern
und läßt sie ihren Gang gehen; nur wenn es sein Zweck erfordert, bekämpft
er ihre Meinungen, hartnäckig und den Widerspruch schwer ertragend."
"Seine Geistesrichtung ist praktisch; er will thätig sein. Wenn auch Ehrgeiz
ihn anspornt, so ist es ein würdiges Ziel, das er verfolgt: Das Wohl
der Menschheit, der Ruhm des Vaterlandes." "Seine Religiosität ist ein
ruhiger Vernunftglaube, gleichgiltig gegen Dogmen und Form deS Cultus.
Die fromme Erhebung der Seele zu Gott erkennt er als das schönste Vorrecht
der Menschheit, aber nicht als strenge Pflicht; und weil er von dem unbe¬
kannten Jenseits nichts unterscheiden, weil er dort nicht wirken kann, scheint
es ihm unnütz, den Blick zu lange daraus zu heften. In Glück, im freudigen
Gefühle erhebt sich seine Seele dankbar zu Gott; im Unglück verschließt sie
sich; sie kann ihre Leiden nicht klagen, selbst nicht dort oben; und sein einsamer


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Deutschland, und als es fertig war, ergab sich zum allgemeinen Erstaunen,
daß diese Entwicklung über die Schranke des Sitzungssaals nicht hinaus¬
gegangen war. Es war im Grunde bei der großen französischen Revolution
nicht anders. Die weisen Männer der Constituante, der Legislative und des
Convents haben die vortrefflichsten Ideen entwickelt, aber diese Ideen wurden
als schätzbares Material bei Seite gelegt, und die entscheidenden Fortschritte
der Revolution knüpfen sich an den 14. Juli, den S. October, den 10. August,
den A. Juni; schließlich an den 9. Thermidor und den 18. Brumaire. Solchen
Tagen Widerstand zu leisten oder sie auszubeuten, bedarf es Männer, wie
wir uns Gagern vorstellen; bloße parlamentarische Redner sind dem Umschwung
der Zeiten nicht gewachsen.

Allein es wäre müßig, sich den bittern Empfindungen zu überlassen, die
ein solcher Verlust in uns erregt. Wir wollen lieber versuchen, aus den noch
unfertigen Ideen, die uns dieser ausgezeichnete Mann hinterlassen hat, Nutzen
für unsere eigne Zukunft zu ziehen. Der Schlüssel zu seinem ganzen Wesen
ist der letzte kleine Aufsatz S. 616: Der Mann der That. Er schildert darin
nicht blos das Ideal, das ihm vorschwebte, sondern sich selbst mit allen Ein¬
zelheiten. Es ist an und für sich betrachtet ein glänzendes Bild, die Frucht
eines reifen Nachdenkens und einer klaren, ruhigen Selbstbeobachtung. Wir
wollen hier nur einige Züge anführen, die für das Verständniß des Uebrigen
wesentlich sind. „Sein Heller Verstand ist durch wohlgeleiteten Unterricht reich¬
lich ausgestattet; und die Kenntnisse sind in dem Kopfe wohlgeordnet; denn
mit durchdringendem Scharfsinn weiß er das Verworrene aufzulösen, das
Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern, die Schnörkel der Wissenschaften
abzuschneiden und das, woraus es ankommt, auf den einfachsten Ausdruck
zurückzuführen." „Er hat wenig Geschmack, die Erfindungskraft ist gering,
und das Spiel der Phantasie ganz dem Willen unterworfen." „Seine Ueber¬
zeugungen sind unabhängig und fest, aber auch Andersdenkende hört er gern
und läßt sie ihren Gang gehen; nur wenn es sein Zweck erfordert, bekämpft
er ihre Meinungen, hartnäckig und den Widerspruch schwer ertragend."
„Seine Geistesrichtung ist praktisch; er will thätig sein. Wenn auch Ehrgeiz
ihn anspornt, so ist es ein würdiges Ziel, das er verfolgt: Das Wohl
der Menschheit, der Ruhm des Vaterlandes." „Seine Religiosität ist ein
ruhiger Vernunftglaube, gleichgiltig gegen Dogmen und Form deS Cultus.
Die fromme Erhebung der Seele zu Gott erkennt er als das schönste Vorrecht
der Menschheit, aber nicht als strenge Pflicht; und weil er von dem unbe¬
kannten Jenseits nichts unterscheiden, weil er dort nicht wirken kann, scheint
es ihm unnütz, den Blick zu lange daraus zu heften. In Glück, im freudigen
Gefühle erhebt sich seine Seele dankbar zu Gott; im Unglück verschließt sie
sich; sie kann ihre Leiden nicht klagen, selbst nicht dort oben; und sein einsamer


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[0187] Deutschland, und als es fertig war, ergab sich zum allgemeinen Erstaunen, daß diese Entwicklung über die Schranke des Sitzungssaals nicht hinaus¬ gegangen war. Es war im Grunde bei der großen französischen Revolution nicht anders. Die weisen Männer der Constituante, der Legislative und des Convents haben die vortrefflichsten Ideen entwickelt, aber diese Ideen wurden als schätzbares Material bei Seite gelegt, und die entscheidenden Fortschritte der Revolution knüpfen sich an den 14. Juli, den S. October, den 10. August, den A. Juni; schließlich an den 9. Thermidor und den 18. Brumaire. Solchen Tagen Widerstand zu leisten oder sie auszubeuten, bedarf es Männer, wie wir uns Gagern vorstellen; bloße parlamentarische Redner sind dem Umschwung der Zeiten nicht gewachsen. Allein es wäre müßig, sich den bittern Empfindungen zu überlassen, die ein solcher Verlust in uns erregt. Wir wollen lieber versuchen, aus den noch unfertigen Ideen, die uns dieser ausgezeichnete Mann hinterlassen hat, Nutzen für unsere eigne Zukunft zu ziehen. Der Schlüssel zu seinem ganzen Wesen ist der letzte kleine Aufsatz S. 616: Der Mann der That. Er schildert darin nicht blos das Ideal, das ihm vorschwebte, sondern sich selbst mit allen Ein¬ zelheiten. Es ist an und für sich betrachtet ein glänzendes Bild, die Frucht eines reifen Nachdenkens und einer klaren, ruhigen Selbstbeobachtung. Wir wollen hier nur einige Züge anführen, die für das Verständniß des Uebrigen wesentlich sind. „Sein Heller Verstand ist durch wohlgeleiteten Unterricht reich¬ lich ausgestattet; und die Kenntnisse sind in dem Kopfe wohlgeordnet; denn mit durchdringendem Scharfsinn weiß er das Verworrene aufzulösen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern, die Schnörkel der Wissenschaften abzuschneiden und das, woraus es ankommt, auf den einfachsten Ausdruck zurückzuführen." „Er hat wenig Geschmack, die Erfindungskraft ist gering, und das Spiel der Phantasie ganz dem Willen unterworfen." „Seine Ueber¬ zeugungen sind unabhängig und fest, aber auch Andersdenkende hört er gern und läßt sie ihren Gang gehen; nur wenn es sein Zweck erfordert, bekämpft er ihre Meinungen, hartnäckig und den Widerspruch schwer ertragend." „Seine Geistesrichtung ist praktisch; er will thätig sein. Wenn auch Ehrgeiz ihn anspornt, so ist es ein würdiges Ziel, das er verfolgt: Das Wohl der Menschheit, der Ruhm des Vaterlandes." „Seine Religiosität ist ein ruhiger Vernunftglaube, gleichgiltig gegen Dogmen und Form deS Cultus. Die fromme Erhebung der Seele zu Gott erkennt er als das schönste Vorrecht der Menschheit, aber nicht als strenge Pflicht; und weil er von dem unbe¬ kannten Jenseits nichts unterscheiden, weil er dort nicht wirken kann, scheint es ihm unnütz, den Blick zu lange daraus zu heften. In Glück, im freudigen Gefühle erhebt sich seine Seele dankbar zu Gott; im Unglück verschließt sie sich; sie kann ihre Leiden nicht klagen, selbst nicht dort oben; und sein einsamer 23*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/187>, abgerufen am 22.07.2024.