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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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überhaupt für etwas zählt, zeugt er nicht für einen beliebig auszuweisenden
Theil der Mythen, sondern für die ganzen und buchstäblichen Mythen, Von
hundert Hindus glauben neunundneunzig, daß über die Insel Ceylon ein
Ungeheuer, Namens Raoult herrschte, und daß eine von demselben entführte
Prinzessin durch den berühmten Affengeneral Hanuman befreit worden sei;
denn diese und ähnliche merkwürdige Geschichten stehen geschrieben, und nach
dem Glauben der Hindus ist jedes Wort, das überhaupt im Sanskrit ge¬
schrieben ist, entweder von der Hand der Gottheit geschrieben oder doch durch
sie inspirirt. Wird man auch hier, um den Affengeneral zu einer historischen
Persönlichkeit zu machen, annehmen, er und seine Soldaten haben vielleicht
ein etwas barockes Aeußere gehabt, wodurch sie sich die Satire ihrer Feinde zu¬
gezogen hätten?

Der weitverbreitete Glaube, daß den Mythen eine factische Basis zu
Grunde liegen müsse, beruht darauf, daß moderne Kritiker unwillkürlich ihren
eignen historischen Sinn, ihren eignen Maßstab für Annahme und Verwerfung
überlieferter Dinge auf das mythenbildende Zeitalter übertragen; daß sie sich
nicht entschließen können, diesem Zeitalter einen Grad von Leichtgläubigkeit bei¬
zulegen, der damals ebenso natürlich war, als er heutzutage unmöglich wäre.
Jene Zeit war nicht blos unfähig, den Unterschied zwischen bezeugten That¬
sachen und lfür sie) wahrscheinlichen Dichtungen zu erkennen, sie hatte auch
nicht einmal den Trieb und das Bedürfniß es zu thun. Ihr Glaube stand
nicht als ein geistiger Act allein, er war aufs engste mit lebhafter Einbildungs¬
kraft und erregbaren Gefühl verbunden, und überall, wo die so empfänglichen
Geister starke Eindrücke empfingen, folgte der Glaube unbewußt mit Noth¬
wendigkeit.

Es ist außerdem (ich führe hier wieder GrvleS eigene Worte an) eine sogar
in unserm vorgeschrittenen Zeitalter viel zu umfangreich und unterscheidungslos
angewandte Voraussetzung, daß nothwendigerweise etwas wahr sein muß , wo
viel geglaubt wird, daß geglaubte Dichtung sich immer auf eine Basis histo¬
rischer Wahrheit stützen müsse. Der Einfluß der Einbildungskraft und des
Gefühls beschränkt sich nicht einfach auf den Proceß, Erzählungen, die ur¬
sprünglich auf eine Thatsache begründet sind, umzuschaffen, zu verändern oder
auszuschmücken, er wird oft ohne eine solche vorläufige Basis neue eigne Er¬
zählungen schaffen. Wo es ein Gefühl gibt, das alle Menschen, die in einer
Gesellschaft leben, durchdringt, mag es ein religiöses oder politisches sein, mag
es Liebe, Bewunderung oder Abneigung sein, da werden alle Ereignisse, die
dieses Gefühl in ein Helles Licht zu setzen suchen, mit Begierde begrüßt, rei¬
ßend in Umlauf gesetzt und in der Regel leicht geglaubt. Wenn wirkliche
Ereignisse nicht zur Hand sind, so wird man ergreifende Dichtungen erfinden,
um das Verlangen zu befriedigen. Die vollkommene Uebereinstimmung solcher


überhaupt für etwas zählt, zeugt er nicht für einen beliebig auszuweisenden
Theil der Mythen, sondern für die ganzen und buchstäblichen Mythen, Von
hundert Hindus glauben neunundneunzig, daß über die Insel Ceylon ein
Ungeheuer, Namens Raoult herrschte, und daß eine von demselben entführte
Prinzessin durch den berühmten Affengeneral Hanuman befreit worden sei;
denn diese und ähnliche merkwürdige Geschichten stehen geschrieben, und nach
dem Glauben der Hindus ist jedes Wort, das überhaupt im Sanskrit ge¬
schrieben ist, entweder von der Hand der Gottheit geschrieben oder doch durch
sie inspirirt. Wird man auch hier, um den Affengeneral zu einer historischen
Persönlichkeit zu machen, annehmen, er und seine Soldaten haben vielleicht
ein etwas barockes Aeußere gehabt, wodurch sie sich die Satire ihrer Feinde zu¬
gezogen hätten?

Der weitverbreitete Glaube, daß den Mythen eine factische Basis zu
Grunde liegen müsse, beruht darauf, daß moderne Kritiker unwillkürlich ihren
eignen historischen Sinn, ihren eignen Maßstab für Annahme und Verwerfung
überlieferter Dinge auf das mythenbildende Zeitalter übertragen; daß sie sich
nicht entschließen können, diesem Zeitalter einen Grad von Leichtgläubigkeit bei¬
zulegen, der damals ebenso natürlich war, als er heutzutage unmöglich wäre.
Jene Zeit war nicht blos unfähig, den Unterschied zwischen bezeugten That¬
sachen und lfür sie) wahrscheinlichen Dichtungen zu erkennen, sie hatte auch
nicht einmal den Trieb und das Bedürfniß es zu thun. Ihr Glaube stand
nicht als ein geistiger Act allein, er war aufs engste mit lebhafter Einbildungs¬
kraft und erregbaren Gefühl verbunden, und überall, wo die so empfänglichen
Geister starke Eindrücke empfingen, folgte der Glaube unbewußt mit Noth¬
wendigkeit.

Es ist außerdem (ich führe hier wieder GrvleS eigene Worte an) eine sogar
in unserm vorgeschrittenen Zeitalter viel zu umfangreich und unterscheidungslos
angewandte Voraussetzung, daß nothwendigerweise etwas wahr sein muß , wo
viel geglaubt wird, daß geglaubte Dichtung sich immer auf eine Basis histo¬
rischer Wahrheit stützen müsse. Der Einfluß der Einbildungskraft und des
Gefühls beschränkt sich nicht einfach auf den Proceß, Erzählungen, die ur¬
sprünglich auf eine Thatsache begründet sind, umzuschaffen, zu verändern oder
auszuschmücken, er wird oft ohne eine solche vorläufige Basis neue eigne Er¬
zählungen schaffen. Wo es ein Gefühl gibt, das alle Menschen, die in einer
Gesellschaft leben, durchdringt, mag es ein religiöses oder politisches sein, mag
es Liebe, Bewunderung oder Abneigung sein, da werden alle Ereignisse, die
dieses Gefühl in ein Helles Licht zu setzen suchen, mit Begierde begrüßt, rei¬
ßend in Umlauf gesetzt und in der Regel leicht geglaubt. Wenn wirkliche
Ereignisse nicht zur Hand sind, so wird man ergreifende Dichtungen erfinden,
um das Verlangen zu befriedigen. Die vollkommene Uebereinstimmung solcher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/174>, abgerufen am 22.12.2024.