Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.Dichtungen mit dem vorherrschenden Gefühle nimmt die Stelle eines bestätigenden Am schlagendsten beweisen für die Wahrheit dieser Deduction Beispiele Dichtungen mit dem vorherrschenden Gefühle nimmt die Stelle eines bestätigenden Am schlagendsten beweisen für die Wahrheit dieser Deduction Beispiele <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103308"/> <p xml:id="ID_573" prev="#ID_572"> Dichtungen mit dem vorherrschenden Gefühle nimmt die Stelle eines bestätigenden<lb/> Zeugnisses ein und veranlaßt die Menschen, sie nicht nur mit gläubigem Vertrauen,<lb/> sondern auch mit Vergnügen zu vernehmen; sie in Frage zu stellen und einen Beweis<lb/> ZU verlangen ist eine Arbeit, die nicht unternommen werden kann, ohne auf Wider¬<lb/> spruch zu stoßen. Reichliche Belege sür diese Neigung des menschlichen Geistes liefern<lb/> die unzüchtigen religiösen Sagen, die in verschiedenen Theilen der Welt Cir-<lb/> culation erlangt haben und an denen kein Land fruchtbarer war als Grie¬<lb/> chenland; Sagen, die ihren Ursprung nicht in besondern, falsch erzählten und<lb/> übertriebenen Thatsachen hatten, sondern in den die Gesellschaft durchdringen¬<lb/> der frommen, durch strebsame, phantasievolle Geister in eine Erzählung über¬<lb/> tragenen Geschichten; Sagen endlich, in denen nicht nur die Ereignisse, son¬<lb/> dern oft auch die Personen unwirklich sind, in denen jedoch das sie erzeugende<lb/> Gefühl, das sich seinen eignen Stoff so wie seine eigne Form schafft, deutlich<lb/> erkennbar ist. Auch andere Gefühle werden ebensogut wie die religiösen, voraus¬<lb/> gesetzt daß sie lebhaft und weit verbreitet sind, ihren Ausdruck in einer cur-<lb/> sirenden Erzählung finden und Theile des allgemeinen Volksglaubens werben;<lb/> jeder gefeierte und bekannte Charakter ist die Quelle von tausend Dichtungen,<lb/> die seine Eigenthümlichkeiten als Muster aufstellen. Und wenn es wahr ist,<lb/> wie meiner Meinung nach die gegenwärtige Bemerkung zeigen wird, daß diese<lb/> schöpferische Thätigkeit auch jetzt noch sichtbar und wirksam ist, in einer Zeit,<lb/> wo die Materialien echter Geschichte reichhaltig sind und kritisch studirt werden,<lb/> so ist unser Schluß noch weit mehr verbürgt, daß in Perioden ohne die Kennt¬<lb/> niß eines historischen Zeugnisses und voll von dem Glauben an göttliche Ein¬<lb/> gebungen über die Zukunft und Vergangenheit, rein erdichtete Erzählungen<lb/> leicht ein zweifelloses Vertrauen erlangen werden, wenn sie nur wahrschein¬<lb/> lich und mit den vorgefaßten Ideen der Zuhörer in Einklang sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_574" next="#ID_575"> Am schlagendsten beweisen für die Wahrheit dieser Deduction Beispiele<lb/> ähnlicher Vorgänge aus Zeiten, die uns näher liegen, und über deren Natur<lb/> gegenwärtig niemand im Zweifel ist. Bekanntlich leiten die alten englischen<lb/> Chronisten die Abstammung ihrer Nation von dem Trojaner Brutus ab, und<lb/> verzeichneten von da ab die Könige bis auf Julius Cäsar in regelmäßiger<lb/> chronologischer Folge mit den bezüglichen Jahreszahlen. Als sich zuerst Zwei¬<lb/> fel gegen die Wahrheit dieser Ueberlieferung erhoben, wurde sie genau mit<lb/> denselben Gründen vertheidigt, mit denen jetzt die Behauptung begründet wird,<lb/> etwas Wahres müsse den griechischen Heldensagen zu Grunde liegen. Die<lb/> Worte, mit denen Milton in seiner Geschichte Englands seine Ansicht hierüber<lb/> ausspricht, könnten heute vor einem mit festen Glauben an die Realität von<lb/> Cecrops, Kadmus, Danaus und ihres Gleichen erfüllten Alterthumsforscher ge¬<lb/> schrieben sein: nur daß das Räsonnement dieser altgläubigen Herren nicht<lb/> immer so rationell ist, als das des Dichters deS Verlornen Paradieses. Man</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0175]
Dichtungen mit dem vorherrschenden Gefühle nimmt die Stelle eines bestätigenden
Zeugnisses ein und veranlaßt die Menschen, sie nicht nur mit gläubigem Vertrauen,
sondern auch mit Vergnügen zu vernehmen; sie in Frage zu stellen und einen Beweis
ZU verlangen ist eine Arbeit, die nicht unternommen werden kann, ohne auf Wider¬
spruch zu stoßen. Reichliche Belege sür diese Neigung des menschlichen Geistes liefern
die unzüchtigen religiösen Sagen, die in verschiedenen Theilen der Welt Cir-
culation erlangt haben und an denen kein Land fruchtbarer war als Grie¬
chenland; Sagen, die ihren Ursprung nicht in besondern, falsch erzählten und
übertriebenen Thatsachen hatten, sondern in den die Gesellschaft durchdringen¬
der frommen, durch strebsame, phantasievolle Geister in eine Erzählung über¬
tragenen Geschichten; Sagen endlich, in denen nicht nur die Ereignisse, son¬
dern oft auch die Personen unwirklich sind, in denen jedoch das sie erzeugende
Gefühl, das sich seinen eignen Stoff so wie seine eigne Form schafft, deutlich
erkennbar ist. Auch andere Gefühle werden ebensogut wie die religiösen, voraus¬
gesetzt daß sie lebhaft und weit verbreitet sind, ihren Ausdruck in einer cur-
sirenden Erzählung finden und Theile des allgemeinen Volksglaubens werben;
jeder gefeierte und bekannte Charakter ist die Quelle von tausend Dichtungen,
die seine Eigenthümlichkeiten als Muster aufstellen. Und wenn es wahr ist,
wie meiner Meinung nach die gegenwärtige Bemerkung zeigen wird, daß diese
schöpferische Thätigkeit auch jetzt noch sichtbar und wirksam ist, in einer Zeit,
wo die Materialien echter Geschichte reichhaltig sind und kritisch studirt werden,
so ist unser Schluß noch weit mehr verbürgt, daß in Perioden ohne die Kennt¬
niß eines historischen Zeugnisses und voll von dem Glauben an göttliche Ein¬
gebungen über die Zukunft und Vergangenheit, rein erdichtete Erzählungen
leicht ein zweifelloses Vertrauen erlangen werden, wenn sie nur wahrschein¬
lich und mit den vorgefaßten Ideen der Zuhörer in Einklang sind.
Am schlagendsten beweisen für die Wahrheit dieser Deduction Beispiele
ähnlicher Vorgänge aus Zeiten, die uns näher liegen, und über deren Natur
gegenwärtig niemand im Zweifel ist. Bekanntlich leiten die alten englischen
Chronisten die Abstammung ihrer Nation von dem Trojaner Brutus ab, und
verzeichneten von da ab die Könige bis auf Julius Cäsar in regelmäßiger
chronologischer Folge mit den bezüglichen Jahreszahlen. Als sich zuerst Zwei¬
fel gegen die Wahrheit dieser Ueberlieferung erhoben, wurde sie genau mit
denselben Gründen vertheidigt, mit denen jetzt die Behauptung begründet wird,
etwas Wahres müsse den griechischen Heldensagen zu Grunde liegen. Die
Worte, mit denen Milton in seiner Geschichte Englands seine Ansicht hierüber
ausspricht, könnten heute vor einem mit festen Glauben an die Realität von
Cecrops, Kadmus, Danaus und ihres Gleichen erfüllten Alterthumsforscher ge¬
schrieben sein: nur daß das Räsonnement dieser altgläubigen Herren nicht
immer so rationell ist, als das des Dichters deS Verlornen Paradieses. Man
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |