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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Milderung so höchst verdienten Forchhammer. Vieles Einzelne in den grie¬
chischen Mythen läßt sich allerdings nur allegorisch erklären, versucht man
jedoch dies Princip auf die gesammte Masse der Sagen anzuwenden, so ist man
schon nach den ersten Schritten genöthigt, zu gezwungenen, halsbrechenden und
völlig ungriechischer Deutungen und Klügeleien seine Zuflucht zu nehmen, deren
Unnatürlichkeit nur dem nicht einleuchtet, der einmal der Sklaverei einer vor¬
gefaßten Meinung verfallen ist. Die Anhänger der allegorischen Methode
sind unter andern zu der Behauptung genöthigt, Homer habe die Bedeutung
der von ihm gesungenen Göttersagen nicht mehr verstanden; er erzähle z. B.
den Hader zwischen Zeus und Hera mit festem Glauben an die buchstäbliche
Wahrheit seiner Erzählung, ohne zu ahnen, daß diese nichts weiter bedeute,
als atmosphärische Vorgänge.

Wenn diese allegorische Methode hauptsächlich zur Erklärung der Götter¬
sagen angewendet worden ist, so ist dagegen von jeher die halbhistorische für
die Heldensage beliebter gewesen. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß
in der Sage ein historischer Kern enthalten sei, und sucht denselben durch
Ablösung alles Wunderbaren und Unmöglichen auszuscheiden. Wir haben
eine antike Probe dieser Erklärungsweise in dem Buch eines gewissen Palä-
phatus. Nach ihm waren die Centauren (nach der Sage Söhne der Nephele
d. h. Wolke) junge Leute aus dem Dorfe Nephele, die zuerst Pferde dresstrten.
Aktäon wurde nicht wirklich von seinen Hunden gefressen, sondern ruinirte sich
durch seine Liebhaberei für kostspielige Jagdhunde. Skylla, der Odysseus
kaum entging, war kein Meerungeheuer, sondern ein schnell segelndes Piraten¬
schiff u. s. w. Dies und ähnliches ist freilich so absurd, daß man hier die
Unmöglichkeit der Methode auf den ersten Blick erkennt, aber nicht immer
sind so verzweifelte Mittel nothwendig, um den Mythus in historische Thatsache
zu verwandeln. Fast alle alten Historiker haben ihn aus diese Weise behan¬
delt, und überall ist es ihnen gelungen, durch Weglassungen, Zusätze und
Umänderungen eine Erzählung zu Stande zu bringen, die an sich durchaus
nichts Unglaubliches enthält, und der zur historischen Wahrheit weiter nichts
fehlt, als ein von der Sage unabhängiges Zeugniß, um ihre Wirklichkeit zu
erweisen. So hat namentlich Thucydides an die zehnjährige Dauer des troja¬
nischen Kriegs und an die in Schifsskatalogen angegebene Größe des griechischen
Heeres unbedingt geglaubt; aber den Umstand, daß eine so kleine Stadt von
einer so großen Armee nicht in kürzerer Zeit eingenommen werden konnte, erklärt
er nicht aus der Einmischung der Götter, sondern daraus, daß die Griechen
aus Mangel an Unterhalt sich hätten theilen müssen, um Getreide auf dem
Chersones zu bauen, und durch Eroberung der benachbarten Städte das Fehlende
zu ergänzen. Diese Theorie wurde von dem Messanier Euemerus (zur Zeit
Kassanders von Makedonien) aus die Spitze getrieben, der -- vielleicht nur


Milderung so höchst verdienten Forchhammer. Vieles Einzelne in den grie¬
chischen Mythen läßt sich allerdings nur allegorisch erklären, versucht man
jedoch dies Princip auf die gesammte Masse der Sagen anzuwenden, so ist man
schon nach den ersten Schritten genöthigt, zu gezwungenen, halsbrechenden und
völlig ungriechischer Deutungen und Klügeleien seine Zuflucht zu nehmen, deren
Unnatürlichkeit nur dem nicht einleuchtet, der einmal der Sklaverei einer vor¬
gefaßten Meinung verfallen ist. Die Anhänger der allegorischen Methode
sind unter andern zu der Behauptung genöthigt, Homer habe die Bedeutung
der von ihm gesungenen Göttersagen nicht mehr verstanden; er erzähle z. B.
den Hader zwischen Zeus und Hera mit festem Glauben an die buchstäbliche
Wahrheit seiner Erzählung, ohne zu ahnen, daß diese nichts weiter bedeute,
als atmosphärische Vorgänge.

Wenn diese allegorische Methode hauptsächlich zur Erklärung der Götter¬
sagen angewendet worden ist, so ist dagegen von jeher die halbhistorische für
die Heldensage beliebter gewesen. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß
in der Sage ein historischer Kern enthalten sei, und sucht denselben durch
Ablösung alles Wunderbaren und Unmöglichen auszuscheiden. Wir haben
eine antike Probe dieser Erklärungsweise in dem Buch eines gewissen Palä-
phatus. Nach ihm waren die Centauren (nach der Sage Söhne der Nephele
d. h. Wolke) junge Leute aus dem Dorfe Nephele, die zuerst Pferde dresstrten.
Aktäon wurde nicht wirklich von seinen Hunden gefressen, sondern ruinirte sich
durch seine Liebhaberei für kostspielige Jagdhunde. Skylla, der Odysseus
kaum entging, war kein Meerungeheuer, sondern ein schnell segelndes Piraten¬
schiff u. s. w. Dies und ähnliches ist freilich so absurd, daß man hier die
Unmöglichkeit der Methode auf den ersten Blick erkennt, aber nicht immer
sind so verzweifelte Mittel nothwendig, um den Mythus in historische Thatsache
zu verwandeln. Fast alle alten Historiker haben ihn aus diese Weise behan¬
delt, und überall ist es ihnen gelungen, durch Weglassungen, Zusätze und
Umänderungen eine Erzählung zu Stande zu bringen, die an sich durchaus
nichts Unglaubliches enthält, und der zur historischen Wahrheit weiter nichts
fehlt, als ein von der Sage unabhängiges Zeugniß, um ihre Wirklichkeit zu
erweisen. So hat namentlich Thucydides an die zehnjährige Dauer des troja¬
nischen Kriegs und an die in Schifsskatalogen angegebene Größe des griechischen
Heeres unbedingt geglaubt; aber den Umstand, daß eine so kleine Stadt von
einer so großen Armee nicht in kürzerer Zeit eingenommen werden konnte, erklärt
er nicht aus der Einmischung der Götter, sondern daraus, daß die Griechen
aus Mangel an Unterhalt sich hätten theilen müssen, um Getreide auf dem
Chersones zu bauen, und durch Eroberung der benachbarten Städte das Fehlende
zu ergänzen. Diese Theorie wurde von dem Messanier Euemerus (zur Zeit
Kassanders von Makedonien) aus die Spitze getrieben, der — vielleicht nur


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[0172] Milderung so höchst verdienten Forchhammer. Vieles Einzelne in den grie¬ chischen Mythen läßt sich allerdings nur allegorisch erklären, versucht man jedoch dies Princip auf die gesammte Masse der Sagen anzuwenden, so ist man schon nach den ersten Schritten genöthigt, zu gezwungenen, halsbrechenden und völlig ungriechischer Deutungen und Klügeleien seine Zuflucht zu nehmen, deren Unnatürlichkeit nur dem nicht einleuchtet, der einmal der Sklaverei einer vor¬ gefaßten Meinung verfallen ist. Die Anhänger der allegorischen Methode sind unter andern zu der Behauptung genöthigt, Homer habe die Bedeutung der von ihm gesungenen Göttersagen nicht mehr verstanden; er erzähle z. B. den Hader zwischen Zeus und Hera mit festem Glauben an die buchstäbliche Wahrheit seiner Erzählung, ohne zu ahnen, daß diese nichts weiter bedeute, als atmosphärische Vorgänge. Wenn diese allegorische Methode hauptsächlich zur Erklärung der Götter¬ sagen angewendet worden ist, so ist dagegen von jeher die halbhistorische für die Heldensage beliebter gewesen. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß in der Sage ein historischer Kern enthalten sei, und sucht denselben durch Ablösung alles Wunderbaren und Unmöglichen auszuscheiden. Wir haben eine antike Probe dieser Erklärungsweise in dem Buch eines gewissen Palä- phatus. Nach ihm waren die Centauren (nach der Sage Söhne der Nephele d. h. Wolke) junge Leute aus dem Dorfe Nephele, die zuerst Pferde dresstrten. Aktäon wurde nicht wirklich von seinen Hunden gefressen, sondern ruinirte sich durch seine Liebhaberei für kostspielige Jagdhunde. Skylla, der Odysseus kaum entging, war kein Meerungeheuer, sondern ein schnell segelndes Piraten¬ schiff u. s. w. Dies und ähnliches ist freilich so absurd, daß man hier die Unmöglichkeit der Methode auf den ersten Blick erkennt, aber nicht immer sind so verzweifelte Mittel nothwendig, um den Mythus in historische Thatsache zu verwandeln. Fast alle alten Historiker haben ihn aus diese Weise behan¬ delt, und überall ist es ihnen gelungen, durch Weglassungen, Zusätze und Umänderungen eine Erzählung zu Stande zu bringen, die an sich durchaus nichts Unglaubliches enthält, und der zur historischen Wahrheit weiter nichts fehlt, als ein von der Sage unabhängiges Zeugniß, um ihre Wirklichkeit zu erweisen. So hat namentlich Thucydides an die zehnjährige Dauer des troja¬ nischen Kriegs und an die in Schifsskatalogen angegebene Größe des griechischen Heeres unbedingt geglaubt; aber den Umstand, daß eine so kleine Stadt von einer so großen Armee nicht in kürzerer Zeit eingenommen werden konnte, erklärt er nicht aus der Einmischung der Götter, sondern daraus, daß die Griechen aus Mangel an Unterhalt sich hätten theilen müssen, um Getreide auf dem Chersones zu bauen, und durch Eroberung der benachbarten Städte das Fehlende zu ergänzen. Diese Theorie wurde von dem Messanier Euemerus (zur Zeit Kassanders von Makedonien) aus die Spitze getrieben, der — vielleicht nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/172>, abgerufen am 23.07.2024.