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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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kirchliche Rom zur Herrscherin der Erde zu machen, irrte mindestens nicht in
der Richtung. Von jeher lag hier das Entscheidungsfeld für den Kampf um
die Welt. Noch jüngst stießen das westliche Europa und Nußland hier zusam¬
men, hierhin strebt nicht allein der Zar, sondern mit ihm zugleich Oestreich,
Frankreich und England, freilich kein Staat mit so großer Energie wie
Großbritannien und Rußland. Es war die Bedeutung des letzten Krieges,
daß er den ersten Zusammenstoß zwischen den beiden Riesen bezeichnet, den
Anfang einer Reihe von Kämpfen, zu denen beide Mächte bereits ihre Vor-
bereitungen treffen, ohne daß zu sagen wäre, wann der nächste ausbrechen
werde, und noch weniger: wem der letzte Triumph beschieden sein wird.

In diese große politische Perspektive fallen alle Gesichtspunkte der eng¬
lischen und russischen orientalischen Politik. Wenn England Hoffnung hätte,
daß dein Oömanenreich jemals wieder ein selbstständiges Leben eingehaucht
werden könnte, so würde es nichts Besseres thun als an diese Aufgabe
alle seine Kräfte zu setzen. Leiver hat England dieselbe Ueberzeugung
wie Nußland von einer unrettbaren Hinfälligkeit des türkischen Staats.
Wenn es die Reformen befürwortet, so geschieht eS nicht, weil es von den¬
selben eine Heilung für das Reich, sondern nur eine Verlängerung seines
Lebens erwartet, und mehr noch als alle Reformen liegt ihm am Herzen, waS
seine eigne Macht in das Gebiet einführt. Daher von englischer Seile die
jetzt vorwiegende Auffassung, die Türkei sei ein VerbindnngSgebiet, durch
welches Verkehrsstraßen im englischen Interesse herzustellen sind. Um dieselben
gegen einen russischen Handstreich der Zukunft zu sichern, gibt es für Eng¬
land kein anderes Mittel als ein zweckmäßiges System europäischer Allianzen
und Verträge, als letztes Auskunftsmittel ein directes Ankämpfen wider den
Zaren. Diese Politik mag selbstsüchtig sein -- und welche anvere wäre eS nicht,
oder ve>diente den Namen, wenn sie es nicht wäre? aber die heutige britische
Politik ist auch eine europäische, und dient den besten Interessen des Erdtheils.

Wenn es jetzt als erste handelnde Macht vortritt, um sei" Anrecht auf
die Nutzbarmachung der türkischen Landesräume für den Weltverkehr geltend
zu machen, so ist das keine unberechtigte Anmaßung, sondern auch Erfüllung
der ihm zu Theil gewordenen Mission und ein Schritt im Gemeininteresse des
Erdtheils. Denn hier ist das große Schlacht- und Entscheidungsfeld auch der
europäischen Zukunft für den Kampf zwischen Gesittung und Barbarei, zwischen
Knechtschaft und Freiheit.

Handel und Krieg haben hier wenigstens ein gleiches Interesse. Dieselben
Bahnen, welche man heute projectirt und morgen in. Angriff nehmen wird,
um zunächst zwischen Europa und Innerasien oder dem indischen Ocean die
britischen Waarenballen im Fluge dahingleiten zu lassen, werden dereinst die
Operationslinien für englische Armeecorps und, wie wir hoffen, für mittel-


kirchliche Rom zur Herrscherin der Erde zu machen, irrte mindestens nicht in
der Richtung. Von jeher lag hier das Entscheidungsfeld für den Kampf um
die Welt. Noch jüngst stießen das westliche Europa und Nußland hier zusam¬
men, hierhin strebt nicht allein der Zar, sondern mit ihm zugleich Oestreich,
Frankreich und England, freilich kein Staat mit so großer Energie wie
Großbritannien und Rußland. Es war die Bedeutung des letzten Krieges,
daß er den ersten Zusammenstoß zwischen den beiden Riesen bezeichnet, den
Anfang einer Reihe von Kämpfen, zu denen beide Mächte bereits ihre Vor-
bereitungen treffen, ohne daß zu sagen wäre, wann der nächste ausbrechen
werde, und noch weniger: wem der letzte Triumph beschieden sein wird.

In diese große politische Perspektive fallen alle Gesichtspunkte der eng¬
lischen und russischen orientalischen Politik. Wenn England Hoffnung hätte,
daß dein Oömanenreich jemals wieder ein selbstständiges Leben eingehaucht
werden könnte, so würde es nichts Besseres thun als an diese Aufgabe
alle seine Kräfte zu setzen. Leiver hat England dieselbe Ueberzeugung
wie Nußland von einer unrettbaren Hinfälligkeit des türkischen Staats.
Wenn es die Reformen befürwortet, so geschieht eS nicht, weil es von den¬
selben eine Heilung für das Reich, sondern nur eine Verlängerung seines
Lebens erwartet, und mehr noch als alle Reformen liegt ihm am Herzen, waS
seine eigne Macht in das Gebiet einführt. Daher von englischer Seile die
jetzt vorwiegende Auffassung, die Türkei sei ein VerbindnngSgebiet, durch
welches Verkehrsstraßen im englischen Interesse herzustellen sind. Um dieselben
gegen einen russischen Handstreich der Zukunft zu sichern, gibt es für Eng¬
land kein anderes Mittel als ein zweckmäßiges System europäischer Allianzen
und Verträge, als letztes Auskunftsmittel ein directes Ankämpfen wider den
Zaren. Diese Politik mag selbstsüchtig sein — und welche anvere wäre eS nicht,
oder ve>diente den Namen, wenn sie es nicht wäre? aber die heutige britische
Politik ist auch eine europäische, und dient den besten Interessen des Erdtheils.

Wenn es jetzt als erste handelnde Macht vortritt, um sei» Anrecht auf
die Nutzbarmachung der türkischen Landesräume für den Weltverkehr geltend
zu machen, so ist das keine unberechtigte Anmaßung, sondern auch Erfüllung
der ihm zu Theil gewordenen Mission und ein Schritt im Gemeininteresse des
Erdtheils. Denn hier ist das große Schlacht- und Entscheidungsfeld auch der
europäischen Zukunft für den Kampf zwischen Gesittung und Barbarei, zwischen
Knechtschaft und Freiheit.

Handel und Krieg haben hier wenigstens ein gleiches Interesse. Dieselben
Bahnen, welche man heute projectirt und morgen in. Angriff nehmen wird,
um zunächst zwischen Europa und Innerasien oder dem indischen Ocean die
britischen Waarenballen im Fluge dahingleiten zu lassen, werden dereinst die
Operationslinien für englische Armeecorps und, wie wir hoffen, für mittel-


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[0108] kirchliche Rom zur Herrscherin der Erde zu machen, irrte mindestens nicht in der Richtung. Von jeher lag hier das Entscheidungsfeld für den Kampf um die Welt. Noch jüngst stießen das westliche Europa und Nußland hier zusam¬ men, hierhin strebt nicht allein der Zar, sondern mit ihm zugleich Oestreich, Frankreich und England, freilich kein Staat mit so großer Energie wie Großbritannien und Rußland. Es war die Bedeutung des letzten Krieges, daß er den ersten Zusammenstoß zwischen den beiden Riesen bezeichnet, den Anfang einer Reihe von Kämpfen, zu denen beide Mächte bereits ihre Vor- bereitungen treffen, ohne daß zu sagen wäre, wann der nächste ausbrechen werde, und noch weniger: wem der letzte Triumph beschieden sein wird. In diese große politische Perspektive fallen alle Gesichtspunkte der eng¬ lischen und russischen orientalischen Politik. Wenn England Hoffnung hätte, daß dein Oömanenreich jemals wieder ein selbstständiges Leben eingehaucht werden könnte, so würde es nichts Besseres thun als an diese Aufgabe alle seine Kräfte zu setzen. Leiver hat England dieselbe Ueberzeugung wie Nußland von einer unrettbaren Hinfälligkeit des türkischen Staats. Wenn es die Reformen befürwortet, so geschieht eS nicht, weil es von den¬ selben eine Heilung für das Reich, sondern nur eine Verlängerung seines Lebens erwartet, und mehr noch als alle Reformen liegt ihm am Herzen, waS seine eigne Macht in das Gebiet einführt. Daher von englischer Seile die jetzt vorwiegende Auffassung, die Türkei sei ein VerbindnngSgebiet, durch welches Verkehrsstraßen im englischen Interesse herzustellen sind. Um dieselben gegen einen russischen Handstreich der Zukunft zu sichern, gibt es für Eng¬ land kein anderes Mittel als ein zweckmäßiges System europäischer Allianzen und Verträge, als letztes Auskunftsmittel ein directes Ankämpfen wider den Zaren. Diese Politik mag selbstsüchtig sein — und welche anvere wäre eS nicht, oder ve>diente den Namen, wenn sie es nicht wäre? aber die heutige britische Politik ist auch eine europäische, und dient den besten Interessen des Erdtheils. Wenn es jetzt als erste handelnde Macht vortritt, um sei» Anrecht auf die Nutzbarmachung der türkischen Landesräume für den Weltverkehr geltend zu machen, so ist das keine unberechtigte Anmaßung, sondern auch Erfüllung der ihm zu Theil gewordenen Mission und ein Schritt im Gemeininteresse des Erdtheils. Denn hier ist das große Schlacht- und Entscheidungsfeld auch der europäischen Zukunft für den Kampf zwischen Gesittung und Barbarei, zwischen Knechtschaft und Freiheit. Handel und Krieg haben hier wenigstens ein gleiches Interesse. Dieselben Bahnen, welche man heute projectirt und morgen in. Angriff nehmen wird, um zunächst zwischen Europa und Innerasien oder dem indischen Ocean die britischen Waarenballen im Fluge dahingleiten zu lassen, werden dereinst die Operationslinien für englische Armeecorps und, wie wir hoffen, für mittel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/108>, abgerufen am 22.07.2024.