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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Mißbrauch oder Gewohnheit unter die Privatgewalt der Domäne gefallen
war, dem öffentlichen Gemeinwesen wieder zuzuführen. In diesem Gedanken
lag der Keim einer Reihe von Revolutionen, welche die feudale Gesellschaft
von Grund aus umstürzten. Durch die vom König sanctionirten Verfafsungs-
urkunden der Gemeinden, durch die Sammlung der geschriebenen Gewohnheits¬
rechte und die Municipalstatuten übt das geschriebene Gesetz wieder seine Herr¬
schaft aus. Das Bürgerthum, eine neue Nation, deren Sitten in der bürger¬
lichen Gleichheit und in der Unabhängigkeit der Arbeit bestehen, erhebt sich
zwischen dem Adel und der Leibeigenschaft. Von den Städten geht die Muni¬
cipalfreiheit in all ihren Stufen im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts auf
das Land über, entweder durch das bloße Beispiel und die Mittheilung der
Ideen, oder durch die Folge eines politischen Schutzrechts oder eines territorialen
Zusammenhangs.

Die Wiederherstellung der städtischen Gesellschaft wurde von den Königen
begünstigt. Der König fand in den Städten das, was das Lehnssystem nicht
leisten wollte und konnte, wirkliche Unterthänigkeit, regelmäßige Beisteuern,
disciplinfähige Milizen. Die sociale Umwälzung wurde unterstützt durch die
gelehrte Wiederaufnahme des römischen Rechts, dessen Grundsätze bald aus den
Schulen in die Praxis übergingen. Unter ihrem Einflüsse entstand eine Classe
von Rechtsgelehrten, welche für das gemeine Recht gegen die Gewohnheit
und den Thatbestand ankämpften. Der königliche Gerichtshof oder das Par¬
lament wurde durch die Zulassung dieser Männer neuen Schlages der thätigste
Herd des Neuerungsgeistes. Sie schöpften aus ihren juristischen Studien die
Ueberzeugung, daß in der damaligen Gesellschaft nur zwei Dinge gesetzlich
waren: das Königthum und der Bürgerstand. Gespornt durch den Jnstinct
ihres Standes, durch den Geist unerbittlicher Logik, welcher von Consequenz
zu Consequenz die Anwendung eines Princips verfolgt, begannen sie ohne
Berechnung der Schwierigkeiten die ungeheure Aufgabe, an welche sich nach
ihnen die Arbeit von Jahrhunderten heftete, nämlich in eine und dieselbe Hand
die zerstückelte Souveränetät zu vereinigen, bis zu den bürgerlichen Classen
herabsteigen zu lassen, was über ihnen war, und bis zu ihnen zu erheben, was
unter ihnen stand. Diese politisch gerichtliche Reform fällt in die beiden Re¬
gierungen Ludwig des Heiligen und Philipp des Schönen.

Ein neuer Schritt für die Emancipation des Bürgerthums war der
Kampf des Königthums gegen die Kirche, der 1302 zu einer Einberufung der
Loth KvnöiÄUx führte. Die Städte des Nordens sandten ihre Schössen, die
des Südens ihre Consuln, und die Stimme des gemeinen Volks wurde in
dieser Verhandlung mit derselben Aufmerksamkeit wie die der Barone und
Würdenträger der Kirche gehört. Gebildet durch die Gewohnheit ihrer Muni¬
cipalverfassung mußten die aufgeklärtesten derselben wol den Gedanken fassen,


Mißbrauch oder Gewohnheit unter die Privatgewalt der Domäne gefallen
war, dem öffentlichen Gemeinwesen wieder zuzuführen. In diesem Gedanken
lag der Keim einer Reihe von Revolutionen, welche die feudale Gesellschaft
von Grund aus umstürzten. Durch die vom König sanctionirten Verfafsungs-
urkunden der Gemeinden, durch die Sammlung der geschriebenen Gewohnheits¬
rechte und die Municipalstatuten übt das geschriebene Gesetz wieder seine Herr¬
schaft aus. Das Bürgerthum, eine neue Nation, deren Sitten in der bürger¬
lichen Gleichheit und in der Unabhängigkeit der Arbeit bestehen, erhebt sich
zwischen dem Adel und der Leibeigenschaft. Von den Städten geht die Muni¬
cipalfreiheit in all ihren Stufen im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts auf
das Land über, entweder durch das bloße Beispiel und die Mittheilung der
Ideen, oder durch die Folge eines politischen Schutzrechts oder eines territorialen
Zusammenhangs.

Die Wiederherstellung der städtischen Gesellschaft wurde von den Königen
begünstigt. Der König fand in den Städten das, was das Lehnssystem nicht
leisten wollte und konnte, wirkliche Unterthänigkeit, regelmäßige Beisteuern,
disciplinfähige Milizen. Die sociale Umwälzung wurde unterstützt durch die
gelehrte Wiederaufnahme des römischen Rechts, dessen Grundsätze bald aus den
Schulen in die Praxis übergingen. Unter ihrem Einflüsse entstand eine Classe
von Rechtsgelehrten, welche für das gemeine Recht gegen die Gewohnheit
und den Thatbestand ankämpften. Der königliche Gerichtshof oder das Par¬
lament wurde durch die Zulassung dieser Männer neuen Schlages der thätigste
Herd des Neuerungsgeistes. Sie schöpften aus ihren juristischen Studien die
Ueberzeugung, daß in der damaligen Gesellschaft nur zwei Dinge gesetzlich
waren: das Königthum und der Bürgerstand. Gespornt durch den Jnstinct
ihres Standes, durch den Geist unerbittlicher Logik, welcher von Consequenz
zu Consequenz die Anwendung eines Princips verfolgt, begannen sie ohne
Berechnung der Schwierigkeiten die ungeheure Aufgabe, an welche sich nach
ihnen die Arbeit von Jahrhunderten heftete, nämlich in eine und dieselbe Hand
die zerstückelte Souveränetät zu vereinigen, bis zu den bürgerlichen Classen
herabsteigen zu lassen, was über ihnen war, und bis zu ihnen zu erheben, was
unter ihnen stand. Diese politisch gerichtliche Reform fällt in die beiden Re¬
gierungen Ludwig des Heiligen und Philipp des Schönen.

Ein neuer Schritt für die Emancipation des Bürgerthums war der
Kampf des Königthums gegen die Kirche, der 1302 zu einer Einberufung der
Loth KvnöiÄUx führte. Die Städte des Nordens sandten ihre Schössen, die
des Südens ihre Consuln, und die Stimme des gemeinen Volks wurde in
dieser Verhandlung mit derselben Aufmerksamkeit wie die der Barone und
Würdenträger der Kirche gehört. Gebildet durch die Gewohnheit ihrer Muni¬
cipalverfassung mußten die aufgeklärtesten derselben wol den Gedanken fassen,


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[0102] Mißbrauch oder Gewohnheit unter die Privatgewalt der Domäne gefallen war, dem öffentlichen Gemeinwesen wieder zuzuführen. In diesem Gedanken lag der Keim einer Reihe von Revolutionen, welche die feudale Gesellschaft von Grund aus umstürzten. Durch die vom König sanctionirten Verfafsungs- urkunden der Gemeinden, durch die Sammlung der geschriebenen Gewohnheits¬ rechte und die Municipalstatuten übt das geschriebene Gesetz wieder seine Herr¬ schaft aus. Das Bürgerthum, eine neue Nation, deren Sitten in der bürger¬ lichen Gleichheit und in der Unabhängigkeit der Arbeit bestehen, erhebt sich zwischen dem Adel und der Leibeigenschaft. Von den Städten geht die Muni¬ cipalfreiheit in all ihren Stufen im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts auf das Land über, entweder durch das bloße Beispiel und die Mittheilung der Ideen, oder durch die Folge eines politischen Schutzrechts oder eines territorialen Zusammenhangs. Die Wiederherstellung der städtischen Gesellschaft wurde von den Königen begünstigt. Der König fand in den Städten das, was das Lehnssystem nicht leisten wollte und konnte, wirkliche Unterthänigkeit, regelmäßige Beisteuern, disciplinfähige Milizen. Die sociale Umwälzung wurde unterstützt durch die gelehrte Wiederaufnahme des römischen Rechts, dessen Grundsätze bald aus den Schulen in die Praxis übergingen. Unter ihrem Einflüsse entstand eine Classe von Rechtsgelehrten, welche für das gemeine Recht gegen die Gewohnheit und den Thatbestand ankämpften. Der königliche Gerichtshof oder das Par¬ lament wurde durch die Zulassung dieser Männer neuen Schlages der thätigste Herd des Neuerungsgeistes. Sie schöpften aus ihren juristischen Studien die Ueberzeugung, daß in der damaligen Gesellschaft nur zwei Dinge gesetzlich waren: das Königthum und der Bürgerstand. Gespornt durch den Jnstinct ihres Standes, durch den Geist unerbittlicher Logik, welcher von Consequenz zu Consequenz die Anwendung eines Princips verfolgt, begannen sie ohne Berechnung der Schwierigkeiten die ungeheure Aufgabe, an welche sich nach ihnen die Arbeit von Jahrhunderten heftete, nämlich in eine und dieselbe Hand die zerstückelte Souveränetät zu vereinigen, bis zu den bürgerlichen Classen herabsteigen zu lassen, was über ihnen war, und bis zu ihnen zu erheben, was unter ihnen stand. Diese politisch gerichtliche Reform fällt in die beiden Re¬ gierungen Ludwig des Heiligen und Philipp des Schönen. Ein neuer Schritt für die Emancipation des Bürgerthums war der Kampf des Königthums gegen die Kirche, der 1302 zu einer Einberufung der Loth KvnöiÄUx führte. Die Städte des Nordens sandten ihre Schössen, die des Südens ihre Consuln, und die Stimme des gemeinen Volks wurde in dieser Verhandlung mit derselben Aufmerksamkeit wie die der Barone und Würdenträger der Kirche gehört. Gebildet durch die Gewohnheit ihrer Muni¬ cipalverfassung mußten die aufgeklärtesten derselben wol den Gedanken fassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/102>, abgerufen am 23.07.2024.