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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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vergrößern und wurden Dörfer, wo alle für das Zusammenleben nöthigen
Gewerke unter einer und derselben Verwaltung geübt wurden. Bald erhob
die Errichtung einer Kirche das Dorf zu einer Pfarrgemeinde, und die neue
Gemeinde nahm in der Folge unter den Landesbezirken Platz. Ihre Bewohner,
an das Grundstück gefesselt, Leibeigne oder Halbleibeigne, sahen sich durch die
Nachbarschaft und die gemeinsamen Interessen miteinander eng verbunden; von
da entstanden unter der Autorität des Verwalters, welche mit der des Priesters
vereinigt war, jene durchaus ohne äußere Einwirkung gemachten Entwürfe
von Gemeindeverfassungen, wo die Kirche die nach dem römischen Recht in die
Gemeinderegister eingeschriebenen Urkunden zur Aufbewahrung empfing. So
bildeten sich außerhalb der damals mit römischem Bürgerrecht versehenen
Städte (munieipös), der übrigen Städte (villes) und Marktflecken, wo noch
die mehr und mehr entwürdigten Ueberreste des alten gesellschaftlichen Zustandes
eristirten, Erneuerungs- und Vcrbcsserungselemente für die Zukunft, durch
Verwerthung großer unbebauter Länderstrecken , durch Vervielfältigung der
Ackerbauer- und Handwerkercolonien und durch die fortschreitende Umwandlung
der alten Sklaverei in Leibeigenschaft. Diese im 9. Jahrhundert schon sehr
weitgediehene Umwandlung wurde im Lauf des 10. Jahrhunderts vollendet.
Durch ein eigenthümliches Zusammentreffen ist die. vollständige Einrichtung
dieses Regimes die Epoche, wo in dem fränkischen Gallien der Unterschied der
Racen endigt, wo zwischen den Barbaren und Römern, zwischen Herren und
Unterthanen alle gesetzlichen Konsequenzen der- Abkunftsverschiedenheit ver¬
schwinden. Das Recht hört aus, persönlich zu sein, und wird örtlich; die
germanischen Gesetzbücher und die römische Gesetzsammlung selbst wurden durch
Gewohnheitsrechte ersetzt; es ist das Territorium, nicht die Abkunft, welches
die Bewohner des gallischen Bodens unterscheidet; endlich findet man statt der
verschiedenen Nationalitäten nur noch eine vermischte Bevölkerung, welcher der
Geschichtschreiber fortan den Namen der französischen geben kann.

Zwischen den verschiedenen Elementen der Gesellschaft fand nun ein wech¬
selseitiger Einfluß statt. Die Regierung der aus der Römerzeit stammenden
Municipien bildete sich allmälig nach dem Vorbilde der Höfe und Schlösser.
Die alte Selbstständigkeit wurde mehr und mehr unterdrückt. Dagegen wirkte
die republikanische Bewegung in den italienischen Städten allmälig auch auf
Gallien ein, und die neue Consularverfassung dehnte sich stufenweise von den
Hauptstädten, wo sie entweder mit offener Gewalt oder durch gütliche Verein¬
barung eingeführt wurde, auf die Städte von geringerer Bedeutung aus.
Diese Propaganda umfaßte das südliche Frankreich, während im Norden ohne
äußere Veranlassung durch allmälige Association die-Schwurgemeinde entstand.
Beide Bewegungen, wenn auch verschieden in ihrem Ursprung, führten im
Lauf des 12. Jahrhunderts demselben Grundgedanken zu: alles, was durch


vergrößern und wurden Dörfer, wo alle für das Zusammenleben nöthigen
Gewerke unter einer und derselben Verwaltung geübt wurden. Bald erhob
die Errichtung einer Kirche das Dorf zu einer Pfarrgemeinde, und die neue
Gemeinde nahm in der Folge unter den Landesbezirken Platz. Ihre Bewohner,
an das Grundstück gefesselt, Leibeigne oder Halbleibeigne, sahen sich durch die
Nachbarschaft und die gemeinsamen Interessen miteinander eng verbunden; von
da entstanden unter der Autorität des Verwalters, welche mit der des Priesters
vereinigt war, jene durchaus ohne äußere Einwirkung gemachten Entwürfe
von Gemeindeverfassungen, wo die Kirche die nach dem römischen Recht in die
Gemeinderegister eingeschriebenen Urkunden zur Aufbewahrung empfing. So
bildeten sich außerhalb der damals mit römischem Bürgerrecht versehenen
Städte (munieipös), der übrigen Städte (villes) und Marktflecken, wo noch
die mehr und mehr entwürdigten Ueberreste des alten gesellschaftlichen Zustandes
eristirten, Erneuerungs- und Vcrbcsserungselemente für die Zukunft, durch
Verwerthung großer unbebauter Länderstrecken , durch Vervielfältigung der
Ackerbauer- und Handwerkercolonien und durch die fortschreitende Umwandlung
der alten Sklaverei in Leibeigenschaft. Diese im 9. Jahrhundert schon sehr
weitgediehene Umwandlung wurde im Lauf des 10. Jahrhunderts vollendet.
Durch ein eigenthümliches Zusammentreffen ist die. vollständige Einrichtung
dieses Regimes die Epoche, wo in dem fränkischen Gallien der Unterschied der
Racen endigt, wo zwischen den Barbaren und Römern, zwischen Herren und
Unterthanen alle gesetzlichen Konsequenzen der- Abkunftsverschiedenheit ver¬
schwinden. Das Recht hört aus, persönlich zu sein, und wird örtlich; die
germanischen Gesetzbücher und die römische Gesetzsammlung selbst wurden durch
Gewohnheitsrechte ersetzt; es ist das Territorium, nicht die Abkunft, welches
die Bewohner des gallischen Bodens unterscheidet; endlich findet man statt der
verschiedenen Nationalitäten nur noch eine vermischte Bevölkerung, welcher der
Geschichtschreiber fortan den Namen der französischen geben kann.

Zwischen den verschiedenen Elementen der Gesellschaft fand nun ein wech¬
selseitiger Einfluß statt. Die Regierung der aus der Römerzeit stammenden
Municipien bildete sich allmälig nach dem Vorbilde der Höfe und Schlösser.
Die alte Selbstständigkeit wurde mehr und mehr unterdrückt. Dagegen wirkte
die republikanische Bewegung in den italienischen Städten allmälig auch auf
Gallien ein, und die neue Consularverfassung dehnte sich stufenweise von den
Hauptstädten, wo sie entweder mit offener Gewalt oder durch gütliche Verein¬
barung eingeführt wurde, auf die Städte von geringerer Bedeutung aus.
Diese Propaganda umfaßte das südliche Frankreich, während im Norden ohne
äußere Veranlassung durch allmälige Association die-Schwurgemeinde entstand.
Beide Bewegungen, wenn auch verschieden in ihrem Ursprung, führten im
Lauf des 12. Jahrhunderts demselben Grundgedanken zu: alles, was durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/101>, abgerufen am 23.07.2024.