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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Stärke des Verstandes ausgab, daß man sich schmeichelte, durch Auflösung
aller Illusionen, oder bestimmter ausgedrückt, durch Auflosung alles Glaubens
auch alle Empfindsamkeit überwunden zu haben. Wie wenig das aber der
Fall ist, zeigt sich schon in der Kußern Form dieser neuen Dichtung. Noch
niemals hat eine so durchaus subjective Poesie eristirt, Der Dichter des vor¬
liegenden Romans sowol wie die andern Mitglieder der Schule, an deren
Spitze Carlyle steht, Kingsley, Thackeray, Hawthorne , treten mit ihren über¬
strömenden Empfindungen jeden Augenblick hinter der Coulisse hervor und
theilen dem Leser ihre Reflexionen mit, die freilich nicht dogmatisch zugespitzt
sind, aber desto reichlicher Veranlassung zu Thränen und zu bedenklichem
Kopfschütteln geben.

Und hier ist noch eine bestimmte Seite hervorzuheben, die mit der ästhe¬
tischen Doctrin nur ganz äußerlich zusammenhängt, nämlich die satirische
Richtung der neuesten Poesie. Der eigentliche Realist in seiner reinsten Er¬
scheinung wird nur selten satirisch, das heißt, er geht nur selten von der Ab¬
sicht aus, durch seine Darstellung auf bestimmte Schäden der Gesellschaft auf¬
merksam zu machen und zur Abhilfe derselben beizutragen, weil in diesem
Vorhaben wieder etwas Dogmatisches, wieder eine Auflehnung gegen daS
Recht der Natur liegen würde. Während daher Dickens, der durchaus kein
Realist in unserm Sinne ist, alle Augenblicke die Satire anwendet d. h. durch
Uebertreibung die öffentliche Meinung zu energischem Kampf gegen eine be¬
stimmte Verirrung aufzufordern sucht, thut es Thackeray niemals/ denn jener
hat einen festen Glauben, der sich freilich nur in der Hitze geltend macht, dieser
dagegen ist völlig restgnirt. In ästhetischer Beziehung wird eben 'deshalb der
systematische Realist viel seltener Verstöße begehen. Nun gibt es aber zwischen
beiden Richtungen manche Berührungspunkte. Zuerst empfindet man die Nei¬
gung, das Ungewöhnliche, der Convenienz und der Sittlichkeit Widersprechende
im Detail, in seinem vollen Naturwuchs sich vorzustellen, dann rechtfertigt
man diese Neigung vor sich selbst durch die Idee, etwas Gutes damit zu stiften
Bei den Franzosen, namentlich bei Eugen Sue, ist diese Selbsttäuschung am
handgreiflichsten. Aber auch die Schule Carlyles verdient in sittlicher Be¬
ziehung nicht ganz das Lob, das ihr von den Kritikern der Revue des deur
mondes so freigebig gespendet wird. Ihre Stellung dem Bestehenden gegen¬
über ist eine revolutionäre, und doch ist ihre Gesinnung skeptisch. Man muß
hier die doppelte Frage auswerfen, einmal, wie weit die Poesie satirisch
werden darf, ohne ihre eigne Grenze zu überschreiten, sodann, wie weit sie
sich ihren Eingebungen überlassen darf, ohne auf den vernünftigen Fortschritt
. störend einzuwirken.

Unzweifelhaft ist die Wirkung solcher satirischen Schilderungen, sobald der
Dichter es nur versteht, kräftig an das Thor der Phantasie anzupochen, eine


Stärke des Verstandes ausgab, daß man sich schmeichelte, durch Auflösung
aller Illusionen, oder bestimmter ausgedrückt, durch Auflosung alles Glaubens
auch alle Empfindsamkeit überwunden zu haben. Wie wenig das aber der
Fall ist, zeigt sich schon in der Kußern Form dieser neuen Dichtung. Noch
niemals hat eine so durchaus subjective Poesie eristirt, Der Dichter des vor¬
liegenden Romans sowol wie die andern Mitglieder der Schule, an deren
Spitze Carlyle steht, Kingsley, Thackeray, Hawthorne , treten mit ihren über¬
strömenden Empfindungen jeden Augenblick hinter der Coulisse hervor und
theilen dem Leser ihre Reflexionen mit, die freilich nicht dogmatisch zugespitzt
sind, aber desto reichlicher Veranlassung zu Thränen und zu bedenklichem
Kopfschütteln geben.

Und hier ist noch eine bestimmte Seite hervorzuheben, die mit der ästhe¬
tischen Doctrin nur ganz äußerlich zusammenhängt, nämlich die satirische
Richtung der neuesten Poesie. Der eigentliche Realist in seiner reinsten Er¬
scheinung wird nur selten satirisch, das heißt, er geht nur selten von der Ab¬
sicht aus, durch seine Darstellung auf bestimmte Schäden der Gesellschaft auf¬
merksam zu machen und zur Abhilfe derselben beizutragen, weil in diesem
Vorhaben wieder etwas Dogmatisches, wieder eine Auflehnung gegen daS
Recht der Natur liegen würde. Während daher Dickens, der durchaus kein
Realist in unserm Sinne ist, alle Augenblicke die Satire anwendet d. h. durch
Uebertreibung die öffentliche Meinung zu energischem Kampf gegen eine be¬
stimmte Verirrung aufzufordern sucht, thut es Thackeray niemals/ denn jener
hat einen festen Glauben, der sich freilich nur in der Hitze geltend macht, dieser
dagegen ist völlig restgnirt. In ästhetischer Beziehung wird eben 'deshalb der
systematische Realist viel seltener Verstöße begehen. Nun gibt es aber zwischen
beiden Richtungen manche Berührungspunkte. Zuerst empfindet man die Nei¬
gung, das Ungewöhnliche, der Convenienz und der Sittlichkeit Widersprechende
im Detail, in seinem vollen Naturwuchs sich vorzustellen, dann rechtfertigt
man diese Neigung vor sich selbst durch die Idee, etwas Gutes damit zu stiften
Bei den Franzosen, namentlich bei Eugen Sue, ist diese Selbsttäuschung am
handgreiflichsten. Aber auch die Schule Carlyles verdient in sittlicher Be¬
ziehung nicht ganz das Lob, das ihr von den Kritikern der Revue des deur
mondes so freigebig gespendet wird. Ihre Stellung dem Bestehenden gegen¬
über ist eine revolutionäre, und doch ist ihre Gesinnung skeptisch. Man muß
hier die doppelte Frage auswerfen, einmal, wie weit die Poesie satirisch
werden darf, ohne ihre eigne Grenze zu überschreiten, sodann, wie weit sie
sich ihren Eingebungen überlassen darf, ohne auf den vernünftigen Fortschritt
. störend einzuwirken.

Unzweifelhaft ist die Wirkung solcher satirischen Schilderungen, sobald der
Dichter es nur versteht, kräftig an das Thor der Phantasie anzupochen, eine


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[0479] Stärke des Verstandes ausgab, daß man sich schmeichelte, durch Auflösung aller Illusionen, oder bestimmter ausgedrückt, durch Auflosung alles Glaubens auch alle Empfindsamkeit überwunden zu haben. Wie wenig das aber der Fall ist, zeigt sich schon in der Kußern Form dieser neuen Dichtung. Noch niemals hat eine so durchaus subjective Poesie eristirt, Der Dichter des vor¬ liegenden Romans sowol wie die andern Mitglieder der Schule, an deren Spitze Carlyle steht, Kingsley, Thackeray, Hawthorne , treten mit ihren über¬ strömenden Empfindungen jeden Augenblick hinter der Coulisse hervor und theilen dem Leser ihre Reflexionen mit, die freilich nicht dogmatisch zugespitzt sind, aber desto reichlicher Veranlassung zu Thränen und zu bedenklichem Kopfschütteln geben. Und hier ist noch eine bestimmte Seite hervorzuheben, die mit der ästhe¬ tischen Doctrin nur ganz äußerlich zusammenhängt, nämlich die satirische Richtung der neuesten Poesie. Der eigentliche Realist in seiner reinsten Er¬ scheinung wird nur selten satirisch, das heißt, er geht nur selten von der Ab¬ sicht aus, durch seine Darstellung auf bestimmte Schäden der Gesellschaft auf¬ merksam zu machen und zur Abhilfe derselben beizutragen, weil in diesem Vorhaben wieder etwas Dogmatisches, wieder eine Auflehnung gegen daS Recht der Natur liegen würde. Während daher Dickens, der durchaus kein Realist in unserm Sinne ist, alle Augenblicke die Satire anwendet d. h. durch Uebertreibung die öffentliche Meinung zu energischem Kampf gegen eine be¬ stimmte Verirrung aufzufordern sucht, thut es Thackeray niemals/ denn jener hat einen festen Glauben, der sich freilich nur in der Hitze geltend macht, dieser dagegen ist völlig restgnirt. In ästhetischer Beziehung wird eben 'deshalb der systematische Realist viel seltener Verstöße begehen. Nun gibt es aber zwischen beiden Richtungen manche Berührungspunkte. Zuerst empfindet man die Nei¬ gung, das Ungewöhnliche, der Convenienz und der Sittlichkeit Widersprechende im Detail, in seinem vollen Naturwuchs sich vorzustellen, dann rechtfertigt man diese Neigung vor sich selbst durch die Idee, etwas Gutes damit zu stiften Bei den Franzosen, namentlich bei Eugen Sue, ist diese Selbsttäuschung am handgreiflichsten. Aber auch die Schule Carlyles verdient in sittlicher Be¬ ziehung nicht ganz das Lob, das ihr von den Kritikern der Revue des deur mondes so freigebig gespendet wird. Ihre Stellung dem Bestehenden gegen¬ über ist eine revolutionäre, und doch ist ihre Gesinnung skeptisch. Man muß hier die doppelte Frage auswerfen, einmal, wie weit die Poesie satirisch werden darf, ohne ihre eigne Grenze zu überschreiten, sodann, wie weit sie sich ihren Eingebungen überlassen darf, ohne auf den vernünftigen Fortschritt . störend einzuwirken. Unzweifelhaft ist die Wirkung solcher satirischen Schilderungen, sobald der Dichter es nur versteht, kräftig an das Thor der Phantasie anzupochen, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/479>, abgerufen am 23.07.2024.