Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.sehr durchgreifende. Die gelehrteste Deduction von den Nachtheilen des Zellen- Einmal ist die Wirkung keine correcte, theils weil der individuelle Fall Man nehme z. B. einen Verbrecher, wie Bernadine in Shakespeares sehr durchgreifende. Die gelehrteste Deduction von den Nachtheilen des Zellen- Einmal ist die Wirkung keine correcte, theils weil der individuelle Fall Man nehme z. B. einen Verbrecher, wie Bernadine in Shakespeares <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0480" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103075"/> <p xml:id="ID_1529" prev="#ID_1528"> sehr durchgreifende. Die gelehrteste Deduction von den Nachtheilen des Zellen-<lb/> systems in den Gefängnissen würde gewiß keinen so unmittelbaren Eindruck<lb/> machen, als die anschauliche Schilderung derselben, die von dem vorliegenden<lb/> Roman ungefähr den dritten Theil ausfüllt. Man wird viel leichttt über¬<lb/> zeugt, wenn man den einzelnen Fall in allen seinen Details vor Augen sieht,<lb/> als wenn man über die Regel verständig reflectirt. In noch viel höherem<lb/> Grade ist das der Fall, wenn das Talent des Zeichners mit Leidenschaft ver¬<lb/> bunden ist. So haben Dickens Schilderungen der Schulen von Norkshire im<lb/> Nickelby, der Armenhäuser im Oliver Toise, des Kanzleigerichtshofes im Bleak-<lb/> house eine ungeheure Sensation hervorgerufen, und es ist leicht möglich, daß<lb/> dadurch die Abschaffung der gerügten Uebelstände wesentlich beschleunigt wird.<lb/> So wird auch niemand verkennen, daß durch den Onkel Tom die Sache der<lb/> Sklaverei einen schlimmen Stoß erlitten hat. Aber zwei Bedenken sind bei<lb/> dieser augenscheinlichen Wirkung in Anschlag zu bringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1530"> Einmal ist die Wirkung keine correcte, theils weil der individuelle Fall<lb/> für die Regel nichts beweist, theils weil die Phantasie eines Dichters, auch<lb/> wo er nicht absichtlich übertreibt, der Wirklichkeit doch nicht von allen Seiten<lb/> gerecht werden kann. Er faßt immer nur eine bestimmte Seite des Gegen¬<lb/> standes ins Auge und muß es thun, weil sonst sein Gefühl aus dem natür¬<lb/> lichen Lauf heraustreten würde. Wir wollen ein bestimmtes Beispiel anführen.<lb/> Einer der ersten und glänzendsten Versuche dieser Art waren Victor Hugos<lb/> I^es äerniers ^jours et'rin eonclamnv. Eingestandnermaßen war der Zweck deö<lb/> Dichters, auf die Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken, und er hat mit<lb/> einem wahren Raffinement alle Kräfte seiner Phantasie aufgeboten, um den<lb/> Zustand eines Verurtheilten in den letzten Tagen vor seiner Hinrichtung so<lb/> entsetzlich als möglich darzustellen. Allein was ist eigentlich damit bewiesen?<lb/> Einmal wählte der Dichter ein bestimmtes Individuum aus, ein schwächliches,<lb/> nervöses, feiges Subject, das die Angst entsetzlich auf die Folter spannt; aber<lb/> die Erfahrung stellt viele andere Individuen auf, und es wäre gar kein schlech¬<lb/> ter Versuch, auf die entgegengesetzte Weise zu demselben Resultat zu kommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1531" next="#ID_1532"> Man nehme z. B. einen Verbrecher, wie Bernadine in Shakespeares<lb/> Maß für Maß, einen verhärteten, stumpfsinnigen Bösewicht, dem Leben und<lb/> Tod vollkommen gleichgiltig ist, und für den die Todesstrafe daher nichts<lb/> Schreckliches hat. Ein Dichter von der Anlage V. Hugos würde vielleicht<lb/> im Stande sein, bei dem bestimmten individuellen Fall die Todesstrafe deshalb<lb/> zu verwerfen, weil sie eine gar zu leichte Strafe ist. Hauptsächlich aber muß<lb/> man daran erinnern, daß es bei der Frage nach der Zweckmäßigkeit einer<lb/> Strafe nicht blos darauf ankommt, was der Bestrafte dabei empfindet, denn<lb/> das Gesetz saßt, nur die Regel ins Auge, nicht den einzelnen Fall. Was<lb/> nun das Zellengefängniß betrifft, so wird durch Reate nur eins bewiesen:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0480]
sehr durchgreifende. Die gelehrteste Deduction von den Nachtheilen des Zellen-
systems in den Gefängnissen würde gewiß keinen so unmittelbaren Eindruck
machen, als die anschauliche Schilderung derselben, die von dem vorliegenden
Roman ungefähr den dritten Theil ausfüllt. Man wird viel leichttt über¬
zeugt, wenn man den einzelnen Fall in allen seinen Details vor Augen sieht,
als wenn man über die Regel verständig reflectirt. In noch viel höherem
Grade ist das der Fall, wenn das Talent des Zeichners mit Leidenschaft ver¬
bunden ist. So haben Dickens Schilderungen der Schulen von Norkshire im
Nickelby, der Armenhäuser im Oliver Toise, des Kanzleigerichtshofes im Bleak-
house eine ungeheure Sensation hervorgerufen, und es ist leicht möglich, daß
dadurch die Abschaffung der gerügten Uebelstände wesentlich beschleunigt wird.
So wird auch niemand verkennen, daß durch den Onkel Tom die Sache der
Sklaverei einen schlimmen Stoß erlitten hat. Aber zwei Bedenken sind bei
dieser augenscheinlichen Wirkung in Anschlag zu bringen.
Einmal ist die Wirkung keine correcte, theils weil der individuelle Fall
für die Regel nichts beweist, theils weil die Phantasie eines Dichters, auch
wo er nicht absichtlich übertreibt, der Wirklichkeit doch nicht von allen Seiten
gerecht werden kann. Er faßt immer nur eine bestimmte Seite des Gegen¬
standes ins Auge und muß es thun, weil sonst sein Gefühl aus dem natür¬
lichen Lauf heraustreten würde. Wir wollen ein bestimmtes Beispiel anführen.
Einer der ersten und glänzendsten Versuche dieser Art waren Victor Hugos
I^es äerniers ^jours et'rin eonclamnv. Eingestandnermaßen war der Zweck deö
Dichters, auf die Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken, und er hat mit
einem wahren Raffinement alle Kräfte seiner Phantasie aufgeboten, um den
Zustand eines Verurtheilten in den letzten Tagen vor seiner Hinrichtung so
entsetzlich als möglich darzustellen. Allein was ist eigentlich damit bewiesen?
Einmal wählte der Dichter ein bestimmtes Individuum aus, ein schwächliches,
nervöses, feiges Subject, das die Angst entsetzlich auf die Folter spannt; aber
die Erfahrung stellt viele andere Individuen auf, und es wäre gar kein schlech¬
ter Versuch, auf die entgegengesetzte Weise zu demselben Resultat zu kommen.
Man nehme z. B. einen Verbrecher, wie Bernadine in Shakespeares
Maß für Maß, einen verhärteten, stumpfsinnigen Bösewicht, dem Leben und
Tod vollkommen gleichgiltig ist, und für den die Todesstrafe daher nichts
Schreckliches hat. Ein Dichter von der Anlage V. Hugos würde vielleicht
im Stande sein, bei dem bestimmten individuellen Fall die Todesstrafe deshalb
zu verwerfen, weil sie eine gar zu leichte Strafe ist. Hauptsächlich aber muß
man daran erinnern, daß es bei der Frage nach der Zweckmäßigkeit einer
Strafe nicht blos darauf ankommt, was der Bestrafte dabei empfindet, denn
das Gesetz saßt, nur die Regel ins Auge, nicht den einzelnen Fall. Was
nun das Zellengefängniß betrifft, so wird durch Reate nur eins bewiesen:
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