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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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der mit dem vorhergehenden nicht den geringsten Zusammenhang hat, und zwar
liegt das nur selten an der leichtsinnigen Arbeit, in den meisten Fallen an
dem fieberhaften Streben nach Originalität. Solche Dichter sind z. B. bei
uns Büchner und Hebbel. Aber wir glauben nicht fehlzugreifen, wenn wir
auch bei einem Dichter wie Berthold Auerbach den außerordentlichen Erfolg
wenigstens zum Theil nicht aus der poetischen Farbe, nicht aus dem gemüth-
vollen Interesse des Dichters an den Zuständen, die er schildert, herleiten,
sondern aus der Sonderbarkeit in der äußern Erscheinung seiner Figuren. Wir
sind in unserer gebildeten Gesellschaft an solche Originale nicht gewöhnt, und
wir freuen uns, einmal eine recht handgreifliche Realität vor uns zu haben,
die uns Widerstand leistet. Die neuern Dichter verfahren darin viel geschickter,
als ihre ältern Vorgänger, z. B. Arnim, an deren Erfindungen wir nicht
glaubten, weil sie zu sehr mit phantastischen Einfällen zersetzt waren, während
wir bei den neuen Dorfgeschichten, wenn uns ein Zug seltsam und unwahr¬
scheinlich vorkommt, uns einreden, es liege nur an unserer mangelhaften
Kenntniß, wir würden bei genauerer Kenntniß des Schwarzwaldes wol eines
Bessern überführt werden. Daß der Dichter trotz seiner gewagten Composition
dieses Gefühl der Wahrscheinlichkeit in uns hervorzubringen versteht, ist kein
geringes Zeichen seines Talents.

Wir wenden uns zu dem zweiten Gegensatz, dem moralischen Dogma¬
tismus. Hier ist es namentlich Schiller und seine Schule, die man vor
Augen hat. Es war eine Zeitlang üblich geworden, den sittlichen Maßstab
als einen für alle Zeiten und für alle Individuen feststehenden zu betrachten,
zum Theil noch unter der Einwirkung der kantischen Philosophie. Indem, man
nun eifrige^ vie Natur studirte, ergab es sich, daß der kategorische Imperativ
doch nicht für alle Fälle ausreicht, daß es nicht immer dasselbe ist, wenn zwei
Verschiedene dasselbe thun. Dem Dogmatismus der Tugend und dem Glauben
an die göttliche Weltregierung setzte man also eine skeptische Philosophie ent¬
gegen, die zwar nicht den Begriff des Guten an sich in Frage stellte, aber
wol die Realität des Guten. Man suchte die Wahrheit eines Charakters, und
hier bezog man sich angeblich auf die Erfahrung, auf das enge Ineinander-
wachsen verschiedener, zu entgegengesetzter moralischer Eigenschaften. Man
freute sich darüber, die Schwächen von der liebenswürdigen Seite darzustellen
und die scheinbare Vollkommenheit so lange chemisch zu zersetzen, bis sich ergab,
die Elemente seien in jedem Nalurgegenstand dieselben, und ihre verschieden¬
artige Combination nur ein Zufall. Es ging daraus eine pessimistische, oder
wenn man will, hypochondrische Weltanschauung hervor, eine Stimmung, die
beständig zwischen Lachen und Weinen schwankte, und die im Grunde genommen
den Naturlaus nur dadurch rechtfertigte, daß sie das sittliche Gefühl abstumpfte.

Das Sonderbarste dabei ist, daß man diese Schwäche des Willens für


der mit dem vorhergehenden nicht den geringsten Zusammenhang hat, und zwar
liegt das nur selten an der leichtsinnigen Arbeit, in den meisten Fallen an
dem fieberhaften Streben nach Originalität. Solche Dichter sind z. B. bei
uns Büchner und Hebbel. Aber wir glauben nicht fehlzugreifen, wenn wir
auch bei einem Dichter wie Berthold Auerbach den außerordentlichen Erfolg
wenigstens zum Theil nicht aus der poetischen Farbe, nicht aus dem gemüth-
vollen Interesse des Dichters an den Zuständen, die er schildert, herleiten,
sondern aus der Sonderbarkeit in der äußern Erscheinung seiner Figuren. Wir
sind in unserer gebildeten Gesellschaft an solche Originale nicht gewöhnt, und
wir freuen uns, einmal eine recht handgreifliche Realität vor uns zu haben,
die uns Widerstand leistet. Die neuern Dichter verfahren darin viel geschickter,
als ihre ältern Vorgänger, z. B. Arnim, an deren Erfindungen wir nicht
glaubten, weil sie zu sehr mit phantastischen Einfällen zersetzt waren, während
wir bei den neuen Dorfgeschichten, wenn uns ein Zug seltsam und unwahr¬
scheinlich vorkommt, uns einreden, es liege nur an unserer mangelhaften
Kenntniß, wir würden bei genauerer Kenntniß des Schwarzwaldes wol eines
Bessern überführt werden. Daß der Dichter trotz seiner gewagten Composition
dieses Gefühl der Wahrscheinlichkeit in uns hervorzubringen versteht, ist kein
geringes Zeichen seines Talents.

Wir wenden uns zu dem zweiten Gegensatz, dem moralischen Dogma¬
tismus. Hier ist es namentlich Schiller und seine Schule, die man vor
Augen hat. Es war eine Zeitlang üblich geworden, den sittlichen Maßstab
als einen für alle Zeiten und für alle Individuen feststehenden zu betrachten,
zum Theil noch unter der Einwirkung der kantischen Philosophie. Indem, man
nun eifrige^ vie Natur studirte, ergab es sich, daß der kategorische Imperativ
doch nicht für alle Fälle ausreicht, daß es nicht immer dasselbe ist, wenn zwei
Verschiedene dasselbe thun. Dem Dogmatismus der Tugend und dem Glauben
an die göttliche Weltregierung setzte man also eine skeptische Philosophie ent¬
gegen, die zwar nicht den Begriff des Guten an sich in Frage stellte, aber
wol die Realität des Guten. Man suchte die Wahrheit eines Charakters, und
hier bezog man sich angeblich auf die Erfahrung, auf das enge Ineinander-
wachsen verschiedener, zu entgegengesetzter moralischer Eigenschaften. Man
freute sich darüber, die Schwächen von der liebenswürdigen Seite darzustellen
und die scheinbare Vollkommenheit so lange chemisch zu zersetzen, bis sich ergab,
die Elemente seien in jedem Nalurgegenstand dieselben, und ihre verschieden¬
artige Combination nur ein Zufall. Es ging daraus eine pessimistische, oder
wenn man will, hypochondrische Weltanschauung hervor, eine Stimmung, die
beständig zwischen Lachen und Weinen schwankte, und die im Grunde genommen
den Naturlaus nur dadurch rechtfertigte, daß sie das sittliche Gefühl abstumpfte.

Das Sonderbarste dabei ist, daß man diese Schwäche des Willens für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/478>, abgerufen am 23.07.2024.