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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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macht. Man mag das als einen Segen oder als einen Verderb für das Land
betrachten, auf der Eristenz der beiden großen politischen Parteien, die nicht
blos durch Gesinnung, Interessen und Grundsätze, sondern auch durch Tra¬
ditionen und durch Familienpietät zusammengehalten wurden, beruhte wenigstens
bis zur Aufhebung der Korngesetze die Entwicklung der englischen Politik. Ja
wir möchten weiter gehen, und dem allgemeinen Vorurtheil entgegen die Be¬
hauptung aufstellen, daß sie auch ferner darauf beruhen wird. Freilich war
es eine wunderliche Erscheinung, als vor einigen Jahren nach der Auflösung
des Whigcabinets das Ministerium Derby nach Principien regieren wollte,
die im Grunde von denen ihrer Gegner nicht wesentlich verschieden waren;
aber es ist das in der englischen Geschichte keineswegs zum ersten Mal vor¬
gekommen. Die Parteien überleben nicht blos ihre Grundsätze, sondern es
ist schon vorgekommen, daß sie dieselben gradezu austauschten. Es würde den
Tones in diesem Augenblick schwer werden, ihre politischen Ueberzeugungen
genau zu formuliren; außerdem fehlt es ihnen, was für England sehr wichtig
ist, an hervorragenden Führern, die mit dem Vorzug des Talents den ebenso
unentbehrlichen der Nespectabilität verbinvcn. Aber die Partei hält in großer
und achtunggebietender Masse zusammen, an Disciplin fehlt es ihr auch nicht,
die alten Vorurtheile und Idiosynkrasien sind in voller Kraft, und so wird eS
ihnen wol auch mit der Zeit gelingen, sich wieder Grundsätze anzueignen und
mit einem neuen Programm vor das Parlament zu treten. Es wird ihnen
um so eher gelingen, da die Whigs an Boden im Volke viel mehr verloren
haben und deshalb genöthigt sind, sich mehr und mehr auf die progressiftischen
Fractionen zu stützen, sei es auf die Manchestermänner oder auf die eigent¬
lichen Radicalen. -- In Frankreich war von solchen festgeschlossenen Parteien
nach der Julirevolution keine Rede. Die Legitimisten waren bis auf wenige
Mitglieder aus den Kammern herausgedrängt, die Socialisten waren officiell
noch gar nicht aufgetreten, und von der Eristenz einer bonapartistischen Partei
hatte man noch gar keine Ahnung. Die Parteien innerhalb des Parlaments
wurden im Grunde durch ihre Führer gebildet, die sammt und sonders das
Gemeinsame hatten, sich durch Motive des persönlichen Ehrgeizes bestimmen
zu lassen. Sie wollten an die Spitze der Geschäfte kommen und sahen sich
nach Principien um, die ihnen dazu am besten verhelfen konnten.

In der Reihe dieser durchweg sehr unlauter" Charaktere nimmt Guizot
insofern eine sehr ehrenvolle Stellung ein, als er sich durchaus frei von ge¬
meiner Habsucht zeigte. Der Dienst des Mammons, der jetzt in Paris eine
schwindelnde Höhe erreicht hat, war damals schon sehr lebhaft, und es wollte
damals schon sehr viel sagen, wenn ein Minister der auswärtigen Angelegen¬
heiten sich von allen Börsensveculationen fern hielt und jede directe und in-
directe Bestechung verschmähte. Guizot war echter Bürger und Protestant; er


macht. Man mag das als einen Segen oder als einen Verderb für das Land
betrachten, auf der Eristenz der beiden großen politischen Parteien, die nicht
blos durch Gesinnung, Interessen und Grundsätze, sondern auch durch Tra¬
ditionen und durch Familienpietät zusammengehalten wurden, beruhte wenigstens
bis zur Aufhebung der Korngesetze die Entwicklung der englischen Politik. Ja
wir möchten weiter gehen, und dem allgemeinen Vorurtheil entgegen die Be¬
hauptung aufstellen, daß sie auch ferner darauf beruhen wird. Freilich war
es eine wunderliche Erscheinung, als vor einigen Jahren nach der Auflösung
des Whigcabinets das Ministerium Derby nach Principien regieren wollte,
die im Grunde von denen ihrer Gegner nicht wesentlich verschieden waren;
aber es ist das in der englischen Geschichte keineswegs zum ersten Mal vor¬
gekommen. Die Parteien überleben nicht blos ihre Grundsätze, sondern es
ist schon vorgekommen, daß sie dieselben gradezu austauschten. Es würde den
Tones in diesem Augenblick schwer werden, ihre politischen Ueberzeugungen
genau zu formuliren; außerdem fehlt es ihnen, was für England sehr wichtig
ist, an hervorragenden Führern, die mit dem Vorzug des Talents den ebenso
unentbehrlichen der Nespectabilität verbinvcn. Aber die Partei hält in großer
und achtunggebietender Masse zusammen, an Disciplin fehlt es ihr auch nicht,
die alten Vorurtheile und Idiosynkrasien sind in voller Kraft, und so wird eS
ihnen wol auch mit der Zeit gelingen, sich wieder Grundsätze anzueignen und
mit einem neuen Programm vor das Parlament zu treten. Es wird ihnen
um so eher gelingen, da die Whigs an Boden im Volke viel mehr verloren
haben und deshalb genöthigt sind, sich mehr und mehr auf die progressiftischen
Fractionen zu stützen, sei es auf die Manchestermänner oder auf die eigent¬
lichen Radicalen. — In Frankreich war von solchen festgeschlossenen Parteien
nach der Julirevolution keine Rede. Die Legitimisten waren bis auf wenige
Mitglieder aus den Kammern herausgedrängt, die Socialisten waren officiell
noch gar nicht aufgetreten, und von der Eristenz einer bonapartistischen Partei
hatte man noch gar keine Ahnung. Die Parteien innerhalb des Parlaments
wurden im Grunde durch ihre Führer gebildet, die sammt und sonders das
Gemeinsame hatten, sich durch Motive des persönlichen Ehrgeizes bestimmen
zu lassen. Sie wollten an die Spitze der Geschäfte kommen und sahen sich
nach Principien um, die ihnen dazu am besten verhelfen konnten.

In der Reihe dieser durchweg sehr unlauter» Charaktere nimmt Guizot
insofern eine sehr ehrenvolle Stellung ein, als er sich durchaus frei von ge¬
meiner Habsucht zeigte. Der Dienst des Mammons, der jetzt in Paris eine
schwindelnde Höhe erreicht hat, war damals schon sehr lebhaft, und es wollte
damals schon sehr viel sagen, wenn ein Minister der auswärtigen Angelegen¬
heiten sich von allen Börsensveculationen fern hielt und jede directe und in-
directe Bestechung verschmähte. Guizot war echter Bürger und Protestant; er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/436>, abgerufen am 23.07.2024.