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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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nahm eS mit der Privatsittlichkeit sehr 'streng, und in dieser Beziehung trifft
sein Leben nicht der kleinste Makel. Aber man kann fast von ihm sagen, was
Byron in einem Augenblick wilder Laune von Pitt behauptete, er habe sein
Land gratis ruinirt. Wenn die Opposition unsere Achtung sehr wenig heraus¬
fordert, so war die von Guizot geleitete konservative Partei um kein Haar
breit besser. Jene bestand zum größern Theil aus Männern ohne Vermögen
und ohne Aemter, die beides durch irgend eine große Bewegung zu erlangen
hofften, diese aus Männern im Besitz, die sich gegen jede Bewegung ver¬
wahrten, weil sie fürchten mußten, darin gestört zu werden. Die Opposition
versprach, sobald sie die Macht in den Händen hätte, für materielle Ver¬
besserungen und geistige Fortschritte des Landes zu sorgen; die konservative
Partei verhieß dasselbe, sobald sie die Opposition gebändigt haben würde.
Vorläufig geschah also nichts weiter, als daß man im Parlament und bei den
Wahlen gegeneinander intriguirte und daS Volk auf eine schönere Zukunft
vertröstete. Diese Art von Regierung kann sich halten, so lange der Staat
auf festem Boden ruht; aber eine Regierung, die aus der Revolution hervor¬
gegangen ist, wird durch dies System ruinirt. Guizot spricht in dem vor¬
liegenden Buch seine Verwunderung darüber aus, daß Robert Peel durch die
Februarrevolution nicht grade ungewöhnlich überrascht war, und daß er nahe¬
liegende Gründe dafür aufzufinden wußte. Der praktische Staatsmann hatte
dafür ein besseres Auge, als der Dvctn'nar, und Doctrinen waren bei allen
Handlungen Guizots das leitende Motiv. Sein Ideal war die.englische Ver¬
fassung, wie" sie sich seit 1689 consolidirt hatte, und sein Bestreben für Frank¬
reich, im Innern dieser Verfassung so viel als möglich nachzueifern, nach
außen hin die auf illegitime Weise gegründete Dynastie durch streng conser-
vative Haltung zu legitimiren. Guizot verstand sehr wohl, in die Motive ver¬
gangener Zeiten zu blicken, geschichtliche Ereignisse nachträglich zu analystren,
und von dieser Seite ist er noch lange nicht genügend gewürdigt. Es ist daS
aber ein ganz anderer Scharfsinn, als derjenige, dessen der praktische Staats¬
mann benöthigt ist. Wo es sich um Persönlichkeiten handelte, konnte Guizot
seinen Gegnern mit dem vollen Bewußtsein eines guten und festen Willens
imponiren; aber er täuschte damit doch nur sein Gewissen, denn dieser formell
guten Gesinnung entsprach der Inhalt nicht. Er hatte kein Gefühl für die
wahren Bedürfnisse seines Volks, keine richtige Einsicht in die antinationalen
Beziehungen, und so war er in seinem politischen Verhalten genöthigt, auf
kleine Mittel zu sinnen; er, der ehrliche, etwas steife Mann, mußte die
wunderlichsten Intriguen ausdenken. Man erinnere sich an die Marquesas-
inseln, an Ta'ni, an die spanischen Heirathen, vor allem aber an seine Unter¬
stützung der katholischen Cantone, wo einmal die Doctrin mit den protestantischen
Sympathien durchging, die ihm doch sonst sehr am Herzen liegen.


nahm eS mit der Privatsittlichkeit sehr 'streng, und in dieser Beziehung trifft
sein Leben nicht der kleinste Makel. Aber man kann fast von ihm sagen, was
Byron in einem Augenblick wilder Laune von Pitt behauptete, er habe sein
Land gratis ruinirt. Wenn die Opposition unsere Achtung sehr wenig heraus¬
fordert, so war die von Guizot geleitete konservative Partei um kein Haar
breit besser. Jene bestand zum größern Theil aus Männern ohne Vermögen
und ohne Aemter, die beides durch irgend eine große Bewegung zu erlangen
hofften, diese aus Männern im Besitz, die sich gegen jede Bewegung ver¬
wahrten, weil sie fürchten mußten, darin gestört zu werden. Die Opposition
versprach, sobald sie die Macht in den Händen hätte, für materielle Ver¬
besserungen und geistige Fortschritte des Landes zu sorgen; die konservative
Partei verhieß dasselbe, sobald sie die Opposition gebändigt haben würde.
Vorläufig geschah also nichts weiter, als daß man im Parlament und bei den
Wahlen gegeneinander intriguirte und daS Volk auf eine schönere Zukunft
vertröstete. Diese Art von Regierung kann sich halten, so lange der Staat
auf festem Boden ruht; aber eine Regierung, die aus der Revolution hervor¬
gegangen ist, wird durch dies System ruinirt. Guizot spricht in dem vor¬
liegenden Buch seine Verwunderung darüber aus, daß Robert Peel durch die
Februarrevolution nicht grade ungewöhnlich überrascht war, und daß er nahe¬
liegende Gründe dafür aufzufinden wußte. Der praktische Staatsmann hatte
dafür ein besseres Auge, als der Dvctn'nar, und Doctrinen waren bei allen
Handlungen Guizots das leitende Motiv. Sein Ideal war die.englische Ver¬
fassung, wie" sie sich seit 1689 consolidirt hatte, und sein Bestreben für Frank¬
reich, im Innern dieser Verfassung so viel als möglich nachzueifern, nach
außen hin die auf illegitime Weise gegründete Dynastie durch streng conser-
vative Haltung zu legitimiren. Guizot verstand sehr wohl, in die Motive ver¬
gangener Zeiten zu blicken, geschichtliche Ereignisse nachträglich zu analystren,
und von dieser Seite ist er noch lange nicht genügend gewürdigt. Es ist daS
aber ein ganz anderer Scharfsinn, als derjenige, dessen der praktische Staats¬
mann benöthigt ist. Wo es sich um Persönlichkeiten handelte, konnte Guizot
seinen Gegnern mit dem vollen Bewußtsein eines guten und festen Willens
imponiren; aber er täuschte damit doch nur sein Gewissen, denn dieser formell
guten Gesinnung entsprach der Inhalt nicht. Er hatte kein Gefühl für die
wahren Bedürfnisse seines Volks, keine richtige Einsicht in die antinationalen
Beziehungen, und so war er in seinem politischen Verhalten genöthigt, auf
kleine Mittel zu sinnen; er, der ehrliche, etwas steife Mann, mußte die
wunderlichsten Intriguen ausdenken. Man erinnere sich an die Marquesas-
inseln, an Ta'ni, an die spanischen Heirathen, vor allem aber an seine Unter¬
stützung der katholischen Cantone, wo einmal die Doctrin mit den protestantischen
Sympathien durchging, die ihm doch sonst sehr am Herzen liegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/437>, abgerufen am 23.07.2024.