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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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ein praktisches Verfahren handelt, sich nicht anders darstellen lassen, als in der
Form einer Regel. Diese und andere Gründe veranlassen unsere Schriftsteller
mit Recht, das bisher als unumstößlich aufgenommene Urtheil der romantischen
Schule einer neuen Revision zu unterwerfen und sich nicht nur in den Schriften
von Voltaire und Rousseau, nicht nur im akademischen Dictivnnäre und in
der Encyklopädie, nicht nur in Corneille und Racine, sondern selbst in Boileau
umzusehen, der trotz seiner unzweifelhaften Pedanterie doch etwas Positives
gehabt haben muß, da die neufranzösische Schule, die sich seiner Herrschaft
entzogen hat, in die offenbare Narrheit verfallen ist; und indem man nun
neben jenen Schriftstellern noch die allgemeine Entwicklung der Franzosen ins
Auge faßt, entdeckt man mit einiger Verwunderung, daß außer Boileau und
Voltaire noch viele andere französische Schriftsteller eristirt haben, zum Theil
Schriftsteller vom ersten Range, die weder akademisch, noch encyklopädistisch
schrieben, und deren Studium für unsere eigne Entwicklung von dem größten
Gewinn sein muß.

Dies ist die Stimmung, in welcher der Verfasser des vorliegenden Werks^
bisher nur bekannt als der Fortsetzer der beckerschen Weltgeschichte, an sein
Unternehmen gegangen ist. Es ist nicht blos die Tendenz desselben lobens¬
wert!), sondern auch die Ausführung bringt uns im Verständniß unserer Nach¬
barn einen guten Schritt vorwärts, wenn sich auch bei der allgemeinen eif¬
rigen Thätigkeit auf diesem Gebiet erwarten läßt, daß entweder der Verfasser
selbst oder irgend ein anderer die Sache in nicht langer Zeit wird besser
machen können. Um das Buch richtig zu würdigen, muß man eS mit dem
Einzelnen nicht so streng nehmen, da es zunächst darauf ankam, daS Ganze
der Literatur in einem verständigen Sinn unparteiisch und mit Rücksicht aus
die Vorkenntnisse des größern Publicums darzustellen, und diese Anforderung
finden wir im Wesentlichen befriedigt. Namentlich in Bezug auf das Urtheil,
woraus der Verfasser selber sein Hauptaugenmerk richtet, können wir uns im
Ganzen mit ihm einverstanden erklären. Man darf nicht etwa annehmen,
daß er unbedingt auf Seite der Franzosen tritt; im Gegentheil bestimmt ihn
sein religiöser Sinn und seine Abneigung gegen alles Negative, den vorzüg¬
lichsten Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts, namentlich Voltaire, weniger
Anerkennung zu Theil werden zu lassen, als sie bei ruhiger Ueberlegung verdienen.
Denn ganz abgesehen davon, daß Voltaire trotz seiner Eitelkeit, trotz der
frivolen Stimmungen, in die er in unbewachten Augenblicken verfällt, in Be¬
zug auf die natürliche Religion, die allen Menschen gemein ist, einen starken
und sichern Glauben hatte, muß man in dem Talent selbst das Positive her¬
auserkennen. Wir möchten an dieser Stelle einen Wunsch aussprechen, den
gewiß mancher Leser mit uns theilen wirv. Durch die gesammten Werke Vol¬
taires sich durchzuarbeiten, ist heute von niemand zu verlangen, wenn man ihn


ein praktisches Verfahren handelt, sich nicht anders darstellen lassen, als in der
Form einer Regel. Diese und andere Gründe veranlassen unsere Schriftsteller
mit Recht, das bisher als unumstößlich aufgenommene Urtheil der romantischen
Schule einer neuen Revision zu unterwerfen und sich nicht nur in den Schriften
von Voltaire und Rousseau, nicht nur im akademischen Dictivnnäre und in
der Encyklopädie, nicht nur in Corneille und Racine, sondern selbst in Boileau
umzusehen, der trotz seiner unzweifelhaften Pedanterie doch etwas Positives
gehabt haben muß, da die neufranzösische Schule, die sich seiner Herrschaft
entzogen hat, in die offenbare Narrheit verfallen ist; und indem man nun
neben jenen Schriftstellern noch die allgemeine Entwicklung der Franzosen ins
Auge faßt, entdeckt man mit einiger Verwunderung, daß außer Boileau und
Voltaire noch viele andere französische Schriftsteller eristirt haben, zum Theil
Schriftsteller vom ersten Range, die weder akademisch, noch encyklopädistisch
schrieben, und deren Studium für unsere eigne Entwicklung von dem größten
Gewinn sein muß.

Dies ist die Stimmung, in welcher der Verfasser des vorliegenden Werks^
bisher nur bekannt als der Fortsetzer der beckerschen Weltgeschichte, an sein
Unternehmen gegangen ist. Es ist nicht blos die Tendenz desselben lobens¬
wert!), sondern auch die Ausführung bringt uns im Verständniß unserer Nach¬
barn einen guten Schritt vorwärts, wenn sich auch bei der allgemeinen eif¬
rigen Thätigkeit auf diesem Gebiet erwarten läßt, daß entweder der Verfasser
selbst oder irgend ein anderer die Sache in nicht langer Zeit wird besser
machen können. Um das Buch richtig zu würdigen, muß man eS mit dem
Einzelnen nicht so streng nehmen, da es zunächst darauf ankam, daS Ganze
der Literatur in einem verständigen Sinn unparteiisch und mit Rücksicht aus
die Vorkenntnisse des größern Publicums darzustellen, und diese Anforderung
finden wir im Wesentlichen befriedigt. Namentlich in Bezug auf das Urtheil,
woraus der Verfasser selber sein Hauptaugenmerk richtet, können wir uns im
Ganzen mit ihm einverstanden erklären. Man darf nicht etwa annehmen,
daß er unbedingt auf Seite der Franzosen tritt; im Gegentheil bestimmt ihn
sein religiöser Sinn und seine Abneigung gegen alles Negative, den vorzüg¬
lichsten Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts, namentlich Voltaire, weniger
Anerkennung zu Theil werden zu lassen, als sie bei ruhiger Ueberlegung verdienen.
Denn ganz abgesehen davon, daß Voltaire trotz seiner Eitelkeit, trotz der
frivolen Stimmungen, in die er in unbewachten Augenblicken verfällt, in Be¬
zug auf die natürliche Religion, die allen Menschen gemein ist, einen starken
und sichern Glauben hatte, muß man in dem Talent selbst das Positive her¬
auserkennen. Wir möchten an dieser Stelle einen Wunsch aussprechen, den
gewiß mancher Leser mit uns theilen wirv. Durch die gesammten Werke Vol¬
taires sich durchzuarbeiten, ist heute von niemand zu verlangen, wenn man ihn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/432>, abgerufen am 23.07.2024.