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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Schule suchten jeder Nation gerecht zu werden, indem sie auf einen Augenblick
aus ihrer eignen intellectuellen und sittlichen Bildung heraustraten und sich
auf den fremden Standpunkt versetzten. Sie gingen in dieser Objektivität
zuweilen über die Grenzen aller Vernunft, die doch im Grunde zu allen Zeiten
dieselbe bleiben muß. Nur in Bezug auf die Franzosen glaubten sie sich dieses
Grundsatzes der Gerechtigkeit entschlagen zu dürfen, und man merkt bei ihren
Darstellungen gar nicht heraus, daß die französische Poesie und Prosa eine
ebenso organische Entwicklung, einen ebenso nationalen Charakter gehabt, als
die Poesie und Prosa der Engländer und Spanier.

Man kann diese Ungerechtigkeit sehr wohl begreisen und sür jene Zeit auch
rechtfertigen, denn es war mit den französischen Kunstrichtern ebenso, wie mit
den französischen Philosophen und den Offizieren deS Kaiser Napoleon. Sie
hatten vollständig vergessen, daß es neben ihnen noch andere Völker gab, und
beanspruchten die Gesetze ihrer eignen Individualität zu Gesetzen der Menschheit
im Allgemeinen zu machen, und je eifriger noch zu Anfang dieses Jahrhunderts
die sogenannte gute Gesellschaft sich zeigte, zu Gunsten dieser sogenannten all¬
gemeinen Weltbildung ihre nationale Bildung mit Füßen zu treten, um so
nothwendiger war es, in dem Kampf gegen diesen Despotismus jede Rücksicht
bei Seite zu werfen, und auch die Ungerechtigkeit nicht zu scheuen, wenn es
sich darum handelte, die öffentliche Meinung für die neuen Ansichten zu ge¬
winnen.

Aber die Gefahr ist jetzt vorüber. Der Neffe des Kaisers hat bis jetzt
wenigstens noch keine Spur von der Absicht durchblicken lassen, auch in Be¬
ziehung aus die Ideen einer Weltmonarchie in die Fußtapfen seines großen
Oheims zu treten; von der Oberflächlichkeit der französischen Aufklärung weiß
jeder Schulknabe zu reden, und die Nichtswürdigkeit Voltaires steht am meisten
bei denen fest, die nie eine Zeile von ihm gelesen haben, wozu die überwie¬
gende Mehrzahl nicht blos des deutschen Publicums, sondern auch der deutschen
Schriftsteller gehört. Das Positive ist wieder in einem wahren Uebermaß bei
uns vorhanden, in der Kirche wie im Staat, und es fängt allmälig an die
Ahnung bei uns aufzudämmern, daß man deshalb noch kein Feind der Mensch¬
heit ist, wenn man gewisse Formen des Positiven anzutasten wagt. Aehnliche
Ahnungen machen sich in Bezug auf die schöne Literatur laut. Wir haben
uns seit beinahe zwei Menschenaltern so aus Originalität und Naturwuchö
gelegt, daß man zuweilen wünsche" mochte, jeder Schriftsteller gebe zu seinem
Werk noch ein Lerikon heraus, um sich der gemeinen Masse verständlich zu
machen. Man hat nicht blos gegen die Regel der Akademie und BoileauS^
sondern gegen die Regel im Allgemeinen so lebhaft declamirt, daß man darüber
ganz vergessen hat, wie tue Kunst gleich der Natur in ihrem Schaffen und in
ihrem Wirken bestimmten Gesetzen folgt, und daß diese Gesetze, wo es sich um


Schule suchten jeder Nation gerecht zu werden, indem sie auf einen Augenblick
aus ihrer eignen intellectuellen und sittlichen Bildung heraustraten und sich
auf den fremden Standpunkt versetzten. Sie gingen in dieser Objektivität
zuweilen über die Grenzen aller Vernunft, die doch im Grunde zu allen Zeiten
dieselbe bleiben muß. Nur in Bezug auf die Franzosen glaubten sie sich dieses
Grundsatzes der Gerechtigkeit entschlagen zu dürfen, und man merkt bei ihren
Darstellungen gar nicht heraus, daß die französische Poesie und Prosa eine
ebenso organische Entwicklung, einen ebenso nationalen Charakter gehabt, als
die Poesie und Prosa der Engländer und Spanier.

Man kann diese Ungerechtigkeit sehr wohl begreisen und sür jene Zeit auch
rechtfertigen, denn es war mit den französischen Kunstrichtern ebenso, wie mit
den französischen Philosophen und den Offizieren deS Kaiser Napoleon. Sie
hatten vollständig vergessen, daß es neben ihnen noch andere Völker gab, und
beanspruchten die Gesetze ihrer eignen Individualität zu Gesetzen der Menschheit
im Allgemeinen zu machen, und je eifriger noch zu Anfang dieses Jahrhunderts
die sogenannte gute Gesellschaft sich zeigte, zu Gunsten dieser sogenannten all¬
gemeinen Weltbildung ihre nationale Bildung mit Füßen zu treten, um so
nothwendiger war es, in dem Kampf gegen diesen Despotismus jede Rücksicht
bei Seite zu werfen, und auch die Ungerechtigkeit nicht zu scheuen, wenn es
sich darum handelte, die öffentliche Meinung für die neuen Ansichten zu ge¬
winnen.

Aber die Gefahr ist jetzt vorüber. Der Neffe des Kaisers hat bis jetzt
wenigstens noch keine Spur von der Absicht durchblicken lassen, auch in Be¬
ziehung aus die Ideen einer Weltmonarchie in die Fußtapfen seines großen
Oheims zu treten; von der Oberflächlichkeit der französischen Aufklärung weiß
jeder Schulknabe zu reden, und die Nichtswürdigkeit Voltaires steht am meisten
bei denen fest, die nie eine Zeile von ihm gelesen haben, wozu die überwie¬
gende Mehrzahl nicht blos des deutschen Publicums, sondern auch der deutschen
Schriftsteller gehört. Das Positive ist wieder in einem wahren Uebermaß bei
uns vorhanden, in der Kirche wie im Staat, und es fängt allmälig an die
Ahnung bei uns aufzudämmern, daß man deshalb noch kein Feind der Mensch¬
heit ist, wenn man gewisse Formen des Positiven anzutasten wagt. Aehnliche
Ahnungen machen sich in Bezug auf die schöne Literatur laut. Wir haben
uns seit beinahe zwei Menschenaltern so aus Originalität und Naturwuchö
gelegt, daß man zuweilen wünsche» mochte, jeder Schriftsteller gebe zu seinem
Werk noch ein Lerikon heraus, um sich der gemeinen Masse verständlich zu
machen. Man hat nicht blos gegen die Regel der Akademie und BoileauS^
sondern gegen die Regel im Allgemeinen so lebhaft declamirt, daß man darüber
ganz vergessen hat, wie tue Kunst gleich der Natur in ihrem Schaffen und in
ihrem Wirken bestimmten Gesetzen folgt, und daß diese Gesetze, wo es sich um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/431>, abgerufen am 23.07.2024.