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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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der Philosophie, der an sorgfältiger Bearbeitung der Details wol keine andere
zur Seite steht, genöthigt und befähigt worden, das Positive jedes einzelnen
Systems scharf ins Auge zu fassen, und wenn er gewissermaßen als das Re¬
sultat seiner historischen Forschungen ein neues Lehrgebäude aufzustellen unter¬
nimmt, so liegt es in der Natur der Sache, daß er ohne Rücksicht auf syste¬
matische Folge allen frühern Begriffen und Deductionen, die er als bleibend
anerkennt, ihr Recht widerfahren läßt. Inwiefern nun dieses neue Lehrge¬
bäude sich in der spätern Entwicklung der Philosophie behaupten wird, kann
sich erst in der Zukunft ergeben; für den Augenblick aber erfüllt es bei der
Klarheit, Einfachheit und Objektivität seiner Darstellung und bei der stetigen
Beziehung auf die Geschichte der Philosophie einen sehr erheblichen Zweck:
es ist eine nicht zu umgehende Propädeutik für das Studium jeder Schul¬
philosophie und vertritt gewissermaßen den neutralen Boden, aus dem die streiten¬
den Systeme ihren Kampf ausmachen können. Es ome zu wünschen, daß
auf den Universitäten, wo in der Regel dem Urtheil des angehenden Schülers
zu viel zugemuthet wird, da er doch erst lernen soll, bevor er urtheilt, diese
propädeutische Methode festgehalten würde.

Indem wir uns nun zur Naturphilosophie wenden, müssen wir die Be¬
merkung vorausschicken, daß ihre Stellung jetzt eine entgegengesetzte ist, als
in den Zeiten Schillings. Damals galt es, von der wissenschaftlichen Beob¬
achtung der Natur die Einfälle einer mystischen Spekulation abzuwehren, die
um so zuversichtlicher auftrat, je weniger sie wußte. Heute dagegen macht
die Naturwissenschaft Streifzüge in Das Gebiet der Philosophie und stellt um
so kühnere Syllogismen auf, je weniger sie sich die Begriffe, mit denen sie
operirt, klar gemacht hat. In diesem Augenblick scheint zwar in dem großen
Kampf zwischen Materialismus und Spiritualismus ein Stillstand eingetreten
zu sein, aber die Erschütterung, die dadurch alle bisherigen Vorstellungen er¬
litten haben, ist doch nicht so leicht wieder zu beseitigen. In einem Aufsatz,
der sonst freilich einige höchst erstaunliche Behauptungen enthält, macht Pro¬
fessor Schleiden mit Recht darauf aufmerksam, Daß sich die beiden streitenden
Parteien fast durchweg der Verwechslung zweier Begriffe schuldig machen: Sub¬
stanz und Existenz. Wer z. B. die Eristenz der Seele leugnen wollte, müßte
nicht recht bei Sinnen sein; aber die Frage der Substanz ist damit noch nicht
entschieden d. h. die Frage, ob die Seele durch eigne Kraft besteht. Dasselbe
gilt von der Eristenz oder Substanz des Stoffes. -- Ein naturphilosvphisches
Lehrbuch hat also nach zwei Seilen zu wirken: es soll einmal die Naturwissen-
schaft aus diejenigen Begriffe aufmerksam machen, die sie nicht umgehen kann,
ohne sie doch durch die ihr eignen wissenschaftlichen Instrumente untersuchen
zu können; sie soll auf der andern Seite die Philosophie daran erinnern, daß
die Naturgesetze nicht a Mori zu construiren, sondern aus der Erfahrung zu


der Philosophie, der an sorgfältiger Bearbeitung der Details wol keine andere
zur Seite steht, genöthigt und befähigt worden, das Positive jedes einzelnen
Systems scharf ins Auge zu fassen, und wenn er gewissermaßen als das Re¬
sultat seiner historischen Forschungen ein neues Lehrgebäude aufzustellen unter¬
nimmt, so liegt es in der Natur der Sache, daß er ohne Rücksicht auf syste¬
matische Folge allen frühern Begriffen und Deductionen, die er als bleibend
anerkennt, ihr Recht widerfahren läßt. Inwiefern nun dieses neue Lehrge¬
bäude sich in der spätern Entwicklung der Philosophie behaupten wird, kann
sich erst in der Zukunft ergeben; für den Augenblick aber erfüllt es bei der
Klarheit, Einfachheit und Objektivität seiner Darstellung und bei der stetigen
Beziehung auf die Geschichte der Philosophie einen sehr erheblichen Zweck:
es ist eine nicht zu umgehende Propädeutik für das Studium jeder Schul¬
philosophie und vertritt gewissermaßen den neutralen Boden, aus dem die streiten¬
den Systeme ihren Kampf ausmachen können. Es ome zu wünschen, daß
auf den Universitäten, wo in der Regel dem Urtheil des angehenden Schülers
zu viel zugemuthet wird, da er doch erst lernen soll, bevor er urtheilt, diese
propädeutische Methode festgehalten würde.

Indem wir uns nun zur Naturphilosophie wenden, müssen wir die Be¬
merkung vorausschicken, daß ihre Stellung jetzt eine entgegengesetzte ist, als
in den Zeiten Schillings. Damals galt es, von der wissenschaftlichen Beob¬
achtung der Natur die Einfälle einer mystischen Spekulation abzuwehren, die
um so zuversichtlicher auftrat, je weniger sie wußte. Heute dagegen macht
die Naturwissenschaft Streifzüge in Das Gebiet der Philosophie und stellt um
so kühnere Syllogismen auf, je weniger sie sich die Begriffe, mit denen sie
operirt, klar gemacht hat. In diesem Augenblick scheint zwar in dem großen
Kampf zwischen Materialismus und Spiritualismus ein Stillstand eingetreten
zu sein, aber die Erschütterung, die dadurch alle bisherigen Vorstellungen er¬
litten haben, ist doch nicht so leicht wieder zu beseitigen. In einem Aufsatz,
der sonst freilich einige höchst erstaunliche Behauptungen enthält, macht Pro¬
fessor Schleiden mit Recht darauf aufmerksam, Daß sich die beiden streitenden
Parteien fast durchweg der Verwechslung zweier Begriffe schuldig machen: Sub¬
stanz und Existenz. Wer z. B. die Eristenz der Seele leugnen wollte, müßte
nicht recht bei Sinnen sein; aber die Frage der Substanz ist damit noch nicht
entschieden d. h. die Frage, ob die Seele durch eigne Kraft besteht. Dasselbe
gilt von der Eristenz oder Substanz des Stoffes. — Ein naturphilosvphisches
Lehrbuch hat also nach zwei Seilen zu wirken: es soll einmal die Naturwissen-
schaft aus diejenigen Begriffe aufmerksam machen, die sie nicht umgehen kann,
ohne sie doch durch die ihr eignen wissenschaftlichen Instrumente untersuchen
zu können; sie soll auf der andern Seite die Philosophie daran erinnern, daß
die Naturgesetze nicht a Mori zu construiren, sondern aus der Erfahrung zu


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[0386] der Philosophie, der an sorgfältiger Bearbeitung der Details wol keine andere zur Seite steht, genöthigt und befähigt worden, das Positive jedes einzelnen Systems scharf ins Auge zu fassen, und wenn er gewissermaßen als das Re¬ sultat seiner historischen Forschungen ein neues Lehrgebäude aufzustellen unter¬ nimmt, so liegt es in der Natur der Sache, daß er ohne Rücksicht auf syste¬ matische Folge allen frühern Begriffen und Deductionen, die er als bleibend anerkennt, ihr Recht widerfahren läßt. Inwiefern nun dieses neue Lehrge¬ bäude sich in der spätern Entwicklung der Philosophie behaupten wird, kann sich erst in der Zukunft ergeben; für den Augenblick aber erfüllt es bei der Klarheit, Einfachheit und Objektivität seiner Darstellung und bei der stetigen Beziehung auf die Geschichte der Philosophie einen sehr erheblichen Zweck: es ist eine nicht zu umgehende Propädeutik für das Studium jeder Schul¬ philosophie und vertritt gewissermaßen den neutralen Boden, aus dem die streiten¬ den Systeme ihren Kampf ausmachen können. Es ome zu wünschen, daß auf den Universitäten, wo in der Regel dem Urtheil des angehenden Schülers zu viel zugemuthet wird, da er doch erst lernen soll, bevor er urtheilt, diese propädeutische Methode festgehalten würde. Indem wir uns nun zur Naturphilosophie wenden, müssen wir die Be¬ merkung vorausschicken, daß ihre Stellung jetzt eine entgegengesetzte ist, als in den Zeiten Schillings. Damals galt es, von der wissenschaftlichen Beob¬ achtung der Natur die Einfälle einer mystischen Spekulation abzuwehren, die um so zuversichtlicher auftrat, je weniger sie wußte. Heute dagegen macht die Naturwissenschaft Streifzüge in Das Gebiet der Philosophie und stellt um so kühnere Syllogismen auf, je weniger sie sich die Begriffe, mit denen sie operirt, klar gemacht hat. In diesem Augenblick scheint zwar in dem großen Kampf zwischen Materialismus und Spiritualismus ein Stillstand eingetreten zu sein, aber die Erschütterung, die dadurch alle bisherigen Vorstellungen er¬ litten haben, ist doch nicht so leicht wieder zu beseitigen. In einem Aufsatz, der sonst freilich einige höchst erstaunliche Behauptungen enthält, macht Pro¬ fessor Schleiden mit Recht darauf aufmerksam, Daß sich die beiden streitenden Parteien fast durchweg der Verwechslung zweier Begriffe schuldig machen: Sub¬ stanz und Existenz. Wer z. B. die Eristenz der Seele leugnen wollte, müßte nicht recht bei Sinnen sein; aber die Frage der Substanz ist damit noch nicht entschieden d. h. die Frage, ob die Seele durch eigne Kraft besteht. Dasselbe gilt von der Eristenz oder Substanz des Stoffes. — Ein naturphilosvphisches Lehrbuch hat also nach zwei Seilen zu wirken: es soll einmal die Naturwissen- schaft aus diejenigen Begriffe aufmerksam machen, die sie nicht umgehen kann, ohne sie doch durch die ihr eignen wissenschaftlichen Instrumente untersuchen zu können; sie soll auf der andern Seite die Philosophie daran erinnern, daß die Naturgesetze nicht a Mori zu construiren, sondern aus der Erfahrung zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/386>, abgerufen am 23.07.2024.