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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Für das Inventarium der bisherigen Leistungen der Philosophie, das
wir als das erste Erforderniß für einen weitern Fortschritt bezeichnet haben,
hat sich der Geschichtschreiber der Philosophie Heinrich Ritter gefunden,
der auch grade zu dieser Aufgabe des Eklekticismus eine seltene Befähigung
mitbringt.*) Auch der Ausdruck eklektisch war bei den philosophischen Schulen
der vorigen Generation in Verruf gekommen, da er dem Begriff eines Systems
zu widersprechen schien. Es waltet hier indessen ein Mißverständniß ob. Man
kann allerdings von jedem philosophischen Lehrgebäude verlangen, daß es mit
sich selbst in allen Punkten übereinstimme; aber es war eine falsche Analogie,
wenn man sich diese Uebereinstimmung in der Weise eines mathematischen Lehr¬
buchs dachte. Die Mathematik, die mit einer einfachen Abstraction zu thun
hat, und die im Wesentlichen nur identische Sätze entwickelt, kann von einem
obersten Grundbegriff ausgehn und Schritt für Schritt mit strenger Nothwen¬
digkeit weiter bauen, obgleich man auch hier die Sache nicht auf die Spitze
treiben darf, da sie doch bei jedem neuen Capitel genöthigt ist, auf neue räum¬
liche Anschauungen hinzuweisen und die formellen Folgerungen des Verstan¬
des durch die Anschauung und den Tastsinn zu bereichern. Bei der Philoso¬
phie dagegen ist es augenscheinlich, daß man durchweg mit synthetischen Urtheilen
zu thun hat, und man hat es zu schnell vergessen, daß Kant den synthetischen
Urtheilen a priori eine bestimmte, nicht zu überschreitende Grenze angewiesen
hat. Jener erste Grundbegriff, aus dem man die ganze Philosophie herleiten
wollte, hat seit der spinozistischen Substanz eine Menge wunderlicher Meta¬
morphosen durchgemacht. Das fichtische Ich hat sich zu der schellingschen
Identität der Identität und der Nichtidentität vergeistigt, und man ist auch
bei der Abschwächung derselben, bei dem reinen Sein der hegelschen Logik
nicht stehen geblieben, sondern man hat die Bewegung und andere Beziehungs¬
begriffe herbeigeholt, um in ihnen jenen archimedischen Punkt außerhalb der
Natur zu finden, durch welchen man die Natur und den Geist gleichmäßig in
Bewegung setzen könne. Man war in der scheinbaren Consequenz des Systems
so weit gekommen, daß man für jeden einzelnen Lehrsatz die Kritik verwarf,
wenn diese nicht das ganze System in Frage stellen wollte: ein Selbstgefühl,
welches der Philosophie am wenigsten ansteht, da sie nicht, gleich der Mathe¬
matik, ihre Lehrsätze durch ein ar^umentum g.6 Kommen nachträglich erweisen
kann. Durch das Ausgeben dieser falschen Systematik wird die Aufrichtigkeit
der Philosophie und ihre Klarheit gegen sich selbst nur verbessert werden.
Ritter ist bereits durch seine frühere Thätigkeit, durch seine allgemeine Geschichte



") System der Logik und Metaphysik. Von Dr. Heinrich Ritter- 2. Bd. Götttngen,
Dieterich.
Grenzboten. IV. -1866.

Für das Inventarium der bisherigen Leistungen der Philosophie, das
wir als das erste Erforderniß für einen weitern Fortschritt bezeichnet haben,
hat sich der Geschichtschreiber der Philosophie Heinrich Ritter gefunden,
der auch grade zu dieser Aufgabe des Eklekticismus eine seltene Befähigung
mitbringt.*) Auch der Ausdruck eklektisch war bei den philosophischen Schulen
der vorigen Generation in Verruf gekommen, da er dem Begriff eines Systems
zu widersprechen schien. Es waltet hier indessen ein Mißverständniß ob. Man
kann allerdings von jedem philosophischen Lehrgebäude verlangen, daß es mit
sich selbst in allen Punkten übereinstimme; aber es war eine falsche Analogie,
wenn man sich diese Uebereinstimmung in der Weise eines mathematischen Lehr¬
buchs dachte. Die Mathematik, die mit einer einfachen Abstraction zu thun
hat, und die im Wesentlichen nur identische Sätze entwickelt, kann von einem
obersten Grundbegriff ausgehn und Schritt für Schritt mit strenger Nothwen¬
digkeit weiter bauen, obgleich man auch hier die Sache nicht auf die Spitze
treiben darf, da sie doch bei jedem neuen Capitel genöthigt ist, auf neue räum¬
liche Anschauungen hinzuweisen und die formellen Folgerungen des Verstan¬
des durch die Anschauung und den Tastsinn zu bereichern. Bei der Philoso¬
phie dagegen ist es augenscheinlich, daß man durchweg mit synthetischen Urtheilen
zu thun hat, und man hat es zu schnell vergessen, daß Kant den synthetischen
Urtheilen a priori eine bestimmte, nicht zu überschreitende Grenze angewiesen
hat. Jener erste Grundbegriff, aus dem man die ganze Philosophie herleiten
wollte, hat seit der spinozistischen Substanz eine Menge wunderlicher Meta¬
morphosen durchgemacht. Das fichtische Ich hat sich zu der schellingschen
Identität der Identität und der Nichtidentität vergeistigt, und man ist auch
bei der Abschwächung derselben, bei dem reinen Sein der hegelschen Logik
nicht stehen geblieben, sondern man hat die Bewegung und andere Beziehungs¬
begriffe herbeigeholt, um in ihnen jenen archimedischen Punkt außerhalb der
Natur zu finden, durch welchen man die Natur und den Geist gleichmäßig in
Bewegung setzen könne. Man war in der scheinbaren Consequenz des Systems
so weit gekommen, daß man für jeden einzelnen Lehrsatz die Kritik verwarf,
wenn diese nicht das ganze System in Frage stellen wollte: ein Selbstgefühl,
welches der Philosophie am wenigsten ansteht, da sie nicht, gleich der Mathe¬
matik, ihre Lehrsätze durch ein ar^umentum g.6 Kommen nachträglich erweisen
kann. Durch das Ausgeben dieser falschen Systematik wird die Aufrichtigkeit
der Philosophie und ihre Klarheit gegen sich selbst nur verbessert werden.
Ritter ist bereits durch seine frühere Thätigkeit, durch seine allgemeine Geschichte



") System der Logik und Metaphysik. Von Dr. Heinrich Ritter- 2. Bd. Götttngen,
Dieterich.
Grenzboten. IV. -1866.
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[0385] Für das Inventarium der bisherigen Leistungen der Philosophie, das wir als das erste Erforderniß für einen weitern Fortschritt bezeichnet haben, hat sich der Geschichtschreiber der Philosophie Heinrich Ritter gefunden, der auch grade zu dieser Aufgabe des Eklekticismus eine seltene Befähigung mitbringt.*) Auch der Ausdruck eklektisch war bei den philosophischen Schulen der vorigen Generation in Verruf gekommen, da er dem Begriff eines Systems zu widersprechen schien. Es waltet hier indessen ein Mißverständniß ob. Man kann allerdings von jedem philosophischen Lehrgebäude verlangen, daß es mit sich selbst in allen Punkten übereinstimme; aber es war eine falsche Analogie, wenn man sich diese Uebereinstimmung in der Weise eines mathematischen Lehr¬ buchs dachte. Die Mathematik, die mit einer einfachen Abstraction zu thun hat, und die im Wesentlichen nur identische Sätze entwickelt, kann von einem obersten Grundbegriff ausgehn und Schritt für Schritt mit strenger Nothwen¬ digkeit weiter bauen, obgleich man auch hier die Sache nicht auf die Spitze treiben darf, da sie doch bei jedem neuen Capitel genöthigt ist, auf neue räum¬ liche Anschauungen hinzuweisen und die formellen Folgerungen des Verstan¬ des durch die Anschauung und den Tastsinn zu bereichern. Bei der Philoso¬ phie dagegen ist es augenscheinlich, daß man durchweg mit synthetischen Urtheilen zu thun hat, und man hat es zu schnell vergessen, daß Kant den synthetischen Urtheilen a priori eine bestimmte, nicht zu überschreitende Grenze angewiesen hat. Jener erste Grundbegriff, aus dem man die ganze Philosophie herleiten wollte, hat seit der spinozistischen Substanz eine Menge wunderlicher Meta¬ morphosen durchgemacht. Das fichtische Ich hat sich zu der schellingschen Identität der Identität und der Nichtidentität vergeistigt, und man ist auch bei der Abschwächung derselben, bei dem reinen Sein der hegelschen Logik nicht stehen geblieben, sondern man hat die Bewegung und andere Beziehungs¬ begriffe herbeigeholt, um in ihnen jenen archimedischen Punkt außerhalb der Natur zu finden, durch welchen man die Natur und den Geist gleichmäßig in Bewegung setzen könne. Man war in der scheinbaren Consequenz des Systems so weit gekommen, daß man für jeden einzelnen Lehrsatz die Kritik verwarf, wenn diese nicht das ganze System in Frage stellen wollte: ein Selbstgefühl, welches der Philosophie am wenigsten ansteht, da sie nicht, gleich der Mathe¬ matik, ihre Lehrsätze durch ein ar^umentum g.6 Kommen nachträglich erweisen kann. Durch das Ausgeben dieser falschen Systematik wird die Aufrichtigkeit der Philosophie und ihre Klarheit gegen sich selbst nur verbessert werden. Ritter ist bereits durch seine frühere Thätigkeit, durch seine allgemeine Geschichte ") System der Logik und Metaphysik. Von Dr. Heinrich Ritter- 2. Bd. Götttngen, Dieterich. Grenzboten. IV. -1866.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/385>, abgerufen am 23.07.2024.