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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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lernen sind. In diesem Sinne haben wir zwei neuerschienene Werke*) als ein
dankenswerthes Ereigniß zu begrüßen. Beide gehören mehr der empirischen
'Naturwissenschaft, als der Speculation an; sie greisen aber sehr bedeutend in
vie philosophischen Streitfragen über und geben ein sehr beachtenswerthes
Material, wenn nicht zur Lösung, doch zum Verständniß derselben. -- Pro¬
fessor Jessen, der berühmte Jrrenarzt, geht in seinem Werk häufiger auf die
philosophische Terminologie ein. Es ist das aber nicht die stärkste Seite sei¬
nes Buchs, denn man merkt es seinen Deductionen an, daß er in dieser
Sprache keine bedeutende Uebung hat, also auch nicht frei darüber verfügen
kann. Höchst wichtig und interessant dagegen sind seine Beobachtungen auf
dem Gebiet deS Seelenlebens. Auch hier wie fast in jedem Zweige der Natur-
wissenschaft, geben die Abweichungen die beste Gelegenheit, sich der Regel deut¬
lich bewußt zu werden, und so ist die Beobachtung der Geisteskranken und
ihres anomalen Denkens ein angemessenes Vorstudium für die Erörterung deS
Denkgesctzes. Auf diese subjective Seite des Denkens oder auf die sogenannte
empirische Psychologie hat man während der letzten Generation zu wenig Ge¬
wicht gelegt, zum Theil, weil die frühern Psychologen sich in leere Spielereien
einließen und statt einer Geschichte der Seele Geschichtchen von der Seele er¬
zählten. Aber da es doch die höchste Aufgabe der Philosophie bleibt, die
Identität des Geistes und der Natur oder die Uebereinstimmung des Denk¬
gesctzes mit dem Naturgesetz zu erörtern, so ist die psychologische Betrachtung
des Denkens, da in dem Individuum das Denken sich zugleich als ein Natur¬
proceß entwickelt, der zweckmäßigste Hebel, den man zur Lösung dieses Pro¬
blems anwenden kann. -- Ein weiteres Gebiet umfassen die physiologischen
Vorträge von Beneke, der mit scharfer Hervorhebung der wesentlichen Punkte
sich bemüht, den Menschen mit all seinen Funktionen, also auch mit dem
Denken, in seiner Naturbedingtheit darzustellen. Das Buch ist um so lehr¬
reicher, da der Verfasser in Bezug auf die modernen Streitfragen sehr behut¬
sam zu Werke geht, und wenn er auch seine wahre Meinung durchblicken läßt,
doch die Bedingungen und Einschränkungen so geschickt gruppirt, daß man
durch Paradorien niemals verletzt wird. -- Noch erwähnen wir einen Artikel
von Rosenkranz**) gegen Helmholtz, der aus speculativen Gründen die Ansicht
dieses ausgezeichneten Naturforschers über den endlichen Untergang des Bo¬
dens, auf dem wir selbst mit unserm Denken Wurzel fassen, der Erde, zu
bekämpfen sucht.




*) Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Psychologie von Professor Dr. P. Jessen.
Berlin, Veit und Comp. -- Physiologische Votträge. Für Freunde der Naturwissenschaften
niedergeschrieben von or. F. W. Beneke. Oldenburg, F. Schmidt.
In den königsberger naiurwisscnschaftlichen Unterhaltungen, die fortfahren, ihrem
Wohlerworbenen guten Ruf zu entsprechen.
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lernen sind. In diesem Sinne haben wir zwei neuerschienene Werke*) als ein
dankenswerthes Ereigniß zu begrüßen. Beide gehören mehr der empirischen
'Naturwissenschaft, als der Speculation an; sie greisen aber sehr bedeutend in
vie philosophischen Streitfragen über und geben ein sehr beachtenswerthes
Material, wenn nicht zur Lösung, doch zum Verständniß derselben. — Pro¬
fessor Jessen, der berühmte Jrrenarzt, geht in seinem Werk häufiger auf die
philosophische Terminologie ein. Es ist das aber nicht die stärkste Seite sei¬
nes Buchs, denn man merkt es seinen Deductionen an, daß er in dieser
Sprache keine bedeutende Uebung hat, also auch nicht frei darüber verfügen
kann. Höchst wichtig und interessant dagegen sind seine Beobachtungen auf
dem Gebiet deS Seelenlebens. Auch hier wie fast in jedem Zweige der Natur-
wissenschaft, geben die Abweichungen die beste Gelegenheit, sich der Regel deut¬
lich bewußt zu werden, und so ist die Beobachtung der Geisteskranken und
ihres anomalen Denkens ein angemessenes Vorstudium für die Erörterung deS
Denkgesctzes. Auf diese subjective Seite des Denkens oder auf die sogenannte
empirische Psychologie hat man während der letzten Generation zu wenig Ge¬
wicht gelegt, zum Theil, weil die frühern Psychologen sich in leere Spielereien
einließen und statt einer Geschichte der Seele Geschichtchen von der Seele er¬
zählten. Aber da es doch die höchste Aufgabe der Philosophie bleibt, die
Identität des Geistes und der Natur oder die Uebereinstimmung des Denk¬
gesctzes mit dem Naturgesetz zu erörtern, so ist die psychologische Betrachtung
des Denkens, da in dem Individuum das Denken sich zugleich als ein Natur¬
proceß entwickelt, der zweckmäßigste Hebel, den man zur Lösung dieses Pro¬
blems anwenden kann. — Ein weiteres Gebiet umfassen die physiologischen
Vorträge von Beneke, der mit scharfer Hervorhebung der wesentlichen Punkte
sich bemüht, den Menschen mit all seinen Funktionen, also auch mit dem
Denken, in seiner Naturbedingtheit darzustellen. Das Buch ist um so lehr¬
reicher, da der Verfasser in Bezug auf die modernen Streitfragen sehr behut¬
sam zu Werke geht, und wenn er auch seine wahre Meinung durchblicken läßt,
doch die Bedingungen und Einschränkungen so geschickt gruppirt, daß man
durch Paradorien niemals verletzt wird. — Noch erwähnen wir einen Artikel
von Rosenkranz**) gegen Helmholtz, der aus speculativen Gründen die Ansicht
dieses ausgezeichneten Naturforschers über den endlichen Untergang des Bo¬
dens, auf dem wir selbst mit unserm Denken Wurzel fassen, der Erde, zu
bekämpfen sucht.




*) Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Psychologie von Professor Dr. P. Jessen.
Berlin, Veit und Comp. — Physiologische Votträge. Für Freunde der Naturwissenschaften
niedergeschrieben von or. F. W. Beneke. Oldenburg, F. Schmidt.
In den königsberger naiurwisscnschaftlichen Unterhaltungen, die fortfahren, ihrem
Wohlerworbenen guten Ruf zu entsprechen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/387>, abgerufen am 23.07.2024.