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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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leben, aber man blieb in den zerfallenen Formen, und als dieselben durch das
Erdbeben von 1789 zerstört waren, baute man theoretische Staatsgebäude, die
der nächste Sturm umstieß, bis man sich erschöpft unter die Hand des Cäsars
beugen mußte. --

Das Vorliegende kann natürlich nur eine sehr unvollkommene Idee von
Tocquevilles trefflichem Buche geben, wollten wir weiter eingehen, so würden
wir einen Auszug des Auszuges geben müssen, so sehr ist alles verarbeitet;
so sehr dient jede Bemerkung ihrem Zwecke, daß man nichts entbehren möchte,
es ist ein Buch ohne Phrase, und das läßt sich von wenigen, namentlich
wenigen französischen Werken sagen. Möge es nur noch gestattet sein, den
Schluß des letzten Capitels zu geben, das den französischen Nationalcharakter
schildert.

"Wenn ich diese Nation betrachte, so finde ich sie noch außerordentlicher,
als irgend eine der Begebenheiten ihrer Geschichte. Hat man je auf Erden
ein Volk gesehen so reich an Gegensätzen und so ertrem in allen Handlungen,
so sehr durch Eindrücke und Neigungen, so wenig durch Grundsätze geleitet,
so daß es sich bald schlimmer, bald besser bewährte als man erwartet? Bald
unter dem allgemeinen Niveau der Menschheit stehend, bald hoch darüber, ein
Volk so unveränderlich in seinen Trieben, daß man es noch in den Schilde¬
rungen wiedererkennt, die vor zweitausend Jahren von ihm gemacht sind, und
zu gleicher Zeit so beweglich in seinen täglichen Gedanken und Geschmacke,
daß es schließlich sich selbst ein unerwartetes Schauspiel wird, und oft ebenso
erstaunt bleibt über das, was es thut, wie die Fremden; mehr als alle andern
an seinem Herde und seinen Gewohnheiten hängend, so lange man es sich
selbst überläßt, und wenn man es einmal widerwillig der Heimath entrissen
hat, bereit, bis ans Ende der Welt vorzudringen und alles zu wagen, unge¬
lehrig seinem Temperament nach und doch sich lieber der willkürlichen und
selbst gewaltthätigen Herrschaft eines Fürsten fügend, als der regelmäßigen und
freien Leitung seiner ersten Bürger, heute geschworner Feind alles Gehorsams
und morgen eine Leidenschaft zu dienen zeigend, welche die für die Knechtschaft
bestbcgabtesten Nationen nicht erreichen können, an einem Faden geführt, so
lange niemand widersteht, unrcgierbar, sobald das Beispiel des Widerstands
einmal gegeben; und so seine Herren, die es bald zu wenig, bald zu sehr
fürchten, stets täuschend, da es niemals so frei ist, daß man nicht hoffen könnte,
es zu knechten, und niemals so geknechtet, daß es nicht noch sein Joch brechen
könnte; begabt für alles, aber hervorragend nur im Kriege, dem Zufall, der
Gewalt, dem Erfolg, Glanz und Geräusch nachjagend weit mehr als dem
wahren Ruhm, mehr des Heroismus als der Tugend, mehr des Genies als
des gesunden Menschenverstandes fähig, mehr geeignet, unermeßliche Pläne zu
entwerfen, als große Unternehmungen auszuführen, die glänzendste und ge-


leben, aber man blieb in den zerfallenen Formen, und als dieselben durch das
Erdbeben von 1789 zerstört waren, baute man theoretische Staatsgebäude, die
der nächste Sturm umstieß, bis man sich erschöpft unter die Hand des Cäsars
beugen mußte. —

Das Vorliegende kann natürlich nur eine sehr unvollkommene Idee von
Tocquevilles trefflichem Buche geben, wollten wir weiter eingehen, so würden
wir einen Auszug des Auszuges geben müssen, so sehr ist alles verarbeitet;
so sehr dient jede Bemerkung ihrem Zwecke, daß man nichts entbehren möchte,
es ist ein Buch ohne Phrase, und das läßt sich von wenigen, namentlich
wenigen französischen Werken sagen. Möge es nur noch gestattet sein, den
Schluß des letzten Capitels zu geben, das den französischen Nationalcharakter
schildert.

„Wenn ich diese Nation betrachte, so finde ich sie noch außerordentlicher,
als irgend eine der Begebenheiten ihrer Geschichte. Hat man je auf Erden
ein Volk gesehen so reich an Gegensätzen und so ertrem in allen Handlungen,
so sehr durch Eindrücke und Neigungen, so wenig durch Grundsätze geleitet,
so daß es sich bald schlimmer, bald besser bewährte als man erwartet? Bald
unter dem allgemeinen Niveau der Menschheit stehend, bald hoch darüber, ein
Volk so unveränderlich in seinen Trieben, daß man es noch in den Schilde¬
rungen wiedererkennt, die vor zweitausend Jahren von ihm gemacht sind, und
zu gleicher Zeit so beweglich in seinen täglichen Gedanken und Geschmacke,
daß es schließlich sich selbst ein unerwartetes Schauspiel wird, und oft ebenso
erstaunt bleibt über das, was es thut, wie die Fremden; mehr als alle andern
an seinem Herde und seinen Gewohnheiten hängend, so lange man es sich
selbst überläßt, und wenn man es einmal widerwillig der Heimath entrissen
hat, bereit, bis ans Ende der Welt vorzudringen und alles zu wagen, unge¬
lehrig seinem Temperament nach und doch sich lieber der willkürlichen und
selbst gewaltthätigen Herrschaft eines Fürsten fügend, als der regelmäßigen und
freien Leitung seiner ersten Bürger, heute geschworner Feind alles Gehorsams
und morgen eine Leidenschaft zu dienen zeigend, welche die für die Knechtschaft
bestbcgabtesten Nationen nicht erreichen können, an einem Faden geführt, so
lange niemand widersteht, unrcgierbar, sobald das Beispiel des Widerstands
einmal gegeben; und so seine Herren, die es bald zu wenig, bald zu sehr
fürchten, stets täuschend, da es niemals so frei ist, daß man nicht hoffen könnte,
es zu knechten, und niemals so geknechtet, daß es nicht noch sein Joch brechen
könnte; begabt für alles, aber hervorragend nur im Kriege, dem Zufall, der
Gewalt, dem Erfolg, Glanz und Geräusch nachjagend weit mehr als dem
wahren Ruhm, mehr des Heroismus als der Tugend, mehr des Genies als
des gesunden Menschenverstandes fähig, mehr geeignet, unermeßliche Pläne zu
entwerfen, als große Unternehmungen auszuführen, die glänzendste und ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/268>, abgerufen am 23.07.2024.