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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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als die Taille war; als er dasselbe dem Gencralcontroleur Machault vorlegte,
sagte dieser: Sehr wohl, aber was soll aus den Tailleeinnehmern werden?
Argenson erwiederte bitter, "wahrscheinlich würden Sie sich, wenn man die
Verbrechen vermindern könnte, darüber beunruhigen, was aus den Henkern
werden solle." Abgesehn von den zahlreichen Beamten herrschte wieder unter
den eigentlichen Bürgern der engste Kastengeist, die lächerlichste Eitelkeit und
unaufhörlicher Etikettenstreit. Der Verfasser citirt ein Document, wo die
Körperschaft der Perückenmacher einer kleinen Stadt ihren gerechten Schmerz
ausdrückt, daß den Bäckern der Vortritt vor ihnen gegeben sei, eine andere
Stadt ist in Aufregung über den Streit, ob dem Oberrichter das Weihwasser
vordem städtischen Behörden gereicht werden soll.

Das traurigste Loos traf den Bauernstand, obgleich seine Stellung besser
schien als in, frühern Zeiten, die Leibeigenschaft hatte mit sehr geringen Aus¬
nahmen, aufgehört. Der Bauer war Eigenthümer geworden und liebte seinen
Besitz leidenschaftlich, aber grade dieser Besitz machte ihm die Lasten recht fühl¬
bar, die nach dem feudalen System daS Grundeigenthum beschwerten. Er trug
die ^Taille, den Zehnten, die Frohnden, aus seinen Söhnen nahm man vor¬
zugsweise die Miliz, gegen ihn richteten sich die gehässigen Privilegien deö
Jagdrechts, der Markt-, Musk-, Keltergerechtigkeiten; unter den Grundherren
des Mittelalters war der Bauer an die Scholle gefesselt, sie quälten ihn viel¬
fach, aber sie beschützten ihn auch, im 18. Jahrhundert regierten sie ihn nicht
mehr, aber er war ihnen auch gleichgiltig, sie übten nur ihre Privilegien
gegen ihn und ließen ihn von habgierigen Beamten Schimper. Oft griff in
diesen unglücklichen Lagen der französische Bauer zur Verstellung und zeigte
sich wie der Jude im Mittelalter noch elender als er war, um der systematischen
Auspressung zu entgehen. "Man erwäge diesen Zustand," sagt Tocqueville,
"und berechne, wenn es möglich, welche Summen von Haß und Neid im Herzen
des Bauern sich häufen mußten."

In einem Lande, wo die socialen Verhältnisse so zerrüttet waren, wo eine
Minorität Privilegirter die öffentlichen Geschäfte in ihrem Jtttcresse leitete,
warf sich das strebende Talent vorzüglich aus die Literatur, im 17. Jahrhundert
auf die Poesie, im 18. auf die Philosophie; dieselbe Erscheinung finden wir
im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland; wo einer
Nation die gesunde Theilnahme an ihren Angelegenheiten abgeschnitten wird,
wirft sie sich in das Gebiet der Ideale und Systeme, wenn sie gemäßigte
Verbesserungen ihrer wirklichen Zustände nicht erreichen kann, fängt sie an,
über das höchste Gut und die Vollkommenheit zu Philosophiren. Die Neigung
Zu Philosophiren ergriff in der That das Frankreich des 18. Jahrhunderts
immer mehr, man begeisterte sich für den vollkommenen Staat, discutirte dessen
Einrichtungen bis in die Einzelheiten, man schwärmte für ein idyllisches Natur-


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als die Taille war; als er dasselbe dem Gencralcontroleur Machault vorlegte,
sagte dieser: Sehr wohl, aber was soll aus den Tailleeinnehmern werden?
Argenson erwiederte bitter, „wahrscheinlich würden Sie sich, wenn man die
Verbrechen vermindern könnte, darüber beunruhigen, was aus den Henkern
werden solle." Abgesehn von den zahlreichen Beamten herrschte wieder unter
den eigentlichen Bürgern der engste Kastengeist, die lächerlichste Eitelkeit und
unaufhörlicher Etikettenstreit. Der Verfasser citirt ein Document, wo die
Körperschaft der Perückenmacher einer kleinen Stadt ihren gerechten Schmerz
ausdrückt, daß den Bäckern der Vortritt vor ihnen gegeben sei, eine andere
Stadt ist in Aufregung über den Streit, ob dem Oberrichter das Weihwasser
vordem städtischen Behörden gereicht werden soll.

Das traurigste Loos traf den Bauernstand, obgleich seine Stellung besser
schien als in, frühern Zeiten, die Leibeigenschaft hatte mit sehr geringen Aus¬
nahmen, aufgehört. Der Bauer war Eigenthümer geworden und liebte seinen
Besitz leidenschaftlich, aber grade dieser Besitz machte ihm die Lasten recht fühl¬
bar, die nach dem feudalen System daS Grundeigenthum beschwerten. Er trug
die ^Taille, den Zehnten, die Frohnden, aus seinen Söhnen nahm man vor¬
zugsweise die Miliz, gegen ihn richteten sich die gehässigen Privilegien deö
Jagdrechts, der Markt-, Musk-, Keltergerechtigkeiten; unter den Grundherren
des Mittelalters war der Bauer an die Scholle gefesselt, sie quälten ihn viel¬
fach, aber sie beschützten ihn auch, im 18. Jahrhundert regierten sie ihn nicht
mehr, aber er war ihnen auch gleichgiltig, sie übten nur ihre Privilegien
gegen ihn und ließen ihn von habgierigen Beamten Schimper. Oft griff in
diesen unglücklichen Lagen der französische Bauer zur Verstellung und zeigte
sich wie der Jude im Mittelalter noch elender als er war, um der systematischen
Auspressung zu entgehen. „Man erwäge diesen Zustand," sagt Tocqueville,
„und berechne, wenn es möglich, welche Summen von Haß und Neid im Herzen
des Bauern sich häufen mußten."

In einem Lande, wo die socialen Verhältnisse so zerrüttet waren, wo eine
Minorität Privilegirter die öffentlichen Geschäfte in ihrem Jtttcresse leitete,
warf sich das strebende Talent vorzüglich aus die Literatur, im 17. Jahrhundert
auf die Poesie, im 18. auf die Philosophie; dieselbe Erscheinung finden wir
im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland; wo einer
Nation die gesunde Theilnahme an ihren Angelegenheiten abgeschnitten wird,
wirft sie sich in das Gebiet der Ideale und Systeme, wenn sie gemäßigte
Verbesserungen ihrer wirklichen Zustände nicht erreichen kann, fängt sie an,
über das höchste Gut und die Vollkommenheit zu Philosophiren. Die Neigung
Zu Philosophiren ergriff in der That das Frankreich des 18. Jahrhunderts
immer mehr, man begeisterte sich für den vollkommenen Staat, discutirte dessen
Einrichtungen bis in die Einzelheiten, man schwärmte für ein idyllisches Natur-


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[0267] als die Taille war; als er dasselbe dem Gencralcontroleur Machault vorlegte, sagte dieser: Sehr wohl, aber was soll aus den Tailleeinnehmern werden? Argenson erwiederte bitter, „wahrscheinlich würden Sie sich, wenn man die Verbrechen vermindern könnte, darüber beunruhigen, was aus den Henkern werden solle." Abgesehn von den zahlreichen Beamten herrschte wieder unter den eigentlichen Bürgern der engste Kastengeist, die lächerlichste Eitelkeit und unaufhörlicher Etikettenstreit. Der Verfasser citirt ein Document, wo die Körperschaft der Perückenmacher einer kleinen Stadt ihren gerechten Schmerz ausdrückt, daß den Bäckern der Vortritt vor ihnen gegeben sei, eine andere Stadt ist in Aufregung über den Streit, ob dem Oberrichter das Weihwasser vordem städtischen Behörden gereicht werden soll. Das traurigste Loos traf den Bauernstand, obgleich seine Stellung besser schien als in, frühern Zeiten, die Leibeigenschaft hatte mit sehr geringen Aus¬ nahmen, aufgehört. Der Bauer war Eigenthümer geworden und liebte seinen Besitz leidenschaftlich, aber grade dieser Besitz machte ihm die Lasten recht fühl¬ bar, die nach dem feudalen System daS Grundeigenthum beschwerten. Er trug die ^Taille, den Zehnten, die Frohnden, aus seinen Söhnen nahm man vor¬ zugsweise die Miliz, gegen ihn richteten sich die gehässigen Privilegien deö Jagdrechts, der Markt-, Musk-, Keltergerechtigkeiten; unter den Grundherren des Mittelalters war der Bauer an die Scholle gefesselt, sie quälten ihn viel¬ fach, aber sie beschützten ihn auch, im 18. Jahrhundert regierten sie ihn nicht mehr, aber er war ihnen auch gleichgiltig, sie übten nur ihre Privilegien gegen ihn und ließen ihn von habgierigen Beamten Schimper. Oft griff in diesen unglücklichen Lagen der französische Bauer zur Verstellung und zeigte sich wie der Jude im Mittelalter noch elender als er war, um der systematischen Auspressung zu entgehen. „Man erwäge diesen Zustand," sagt Tocqueville, „und berechne, wenn es möglich, welche Summen von Haß und Neid im Herzen des Bauern sich häufen mußten." In einem Lande, wo die socialen Verhältnisse so zerrüttet waren, wo eine Minorität Privilegirter die öffentlichen Geschäfte in ihrem Jtttcresse leitete, warf sich das strebende Talent vorzüglich aus die Literatur, im 17. Jahrhundert auf die Poesie, im 18. auf die Philosophie; dieselbe Erscheinung finden wir im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland; wo einer Nation die gesunde Theilnahme an ihren Angelegenheiten abgeschnitten wird, wirft sie sich in das Gebiet der Ideale und Systeme, wenn sie gemäßigte Verbesserungen ihrer wirklichen Zustände nicht erreichen kann, fängt sie an, über das höchste Gut und die Vollkommenheit zu Philosophiren. Die Neigung Zu Philosophiren ergriff in der That das Frankreich des 18. Jahrhunderts immer mehr, man begeisterte sich für den vollkommenen Staat, discutirte dessen Einrichtungen bis in die Einzelheiten, man schwärmte für ein idyllisches Natur- 33*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/267>, abgerufen am 23.07.2024.