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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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des Kunstwerks zu bedeuten hat, von welchen Absichten und Entwürfen der
Dichter ausging, warum er diese Mittel zur Ausführung derselben anwandte
und keine andern, inwiefern ihm der sittliche Inhalt, die geistige und die
technische Vorarbeit seiner Zeit zu Hilfe kam, welche Bedingungen und Grenzen
sie ihm stellte u. s. w. Diese objective oder philologische Interpretation ist ein
sehr wichtiger Theil der Kritik, aber sie ist nicht das Ganze, denn die Sach¬
walter des Naturwuchses mögen sagen, was sie wollen, es gibt auch einen
absoluten Maßstab der Kritik. Pope ist zu seiner Zeit ebenso gefeiert worden
als Shakspeare, und heute weiß doch jeder Schulknabe-, daß Shakspeare ein
großer und Pope ein mittelmäßiger Dichter war. Dieses Urtheil, an dessen
Unumstößlichkeit niemand mehr zweifelt, würde die blos interpretirende Kritik
niemals zu Stande bringen. Die zweite Seite der Kritik ist daher ebenso
wichtig wie die erste. Der Kritiker muß erstens feststellen, welchen absoluten
Werth das Kunstwerk hat; er muß zweitens feststellen, wie sich die einzelnen
Theile desselben zu der Idee des Ganzen verhalten, und er muß drittens die
objectiven Gründe dafür entwickeln. Es hat allerdings zu allen Zeiten Kritiker
gegeben, die sich willkürliche Gründe und Maximen ersannen, nach denen sie
ihr Urtheil abwogen, und zu allen Zeiten hat es Dichter gegeben, die bei
jeder Anfechtung von Seiten der Kritik auf diese schlechten Kritiker hinwiesen,
um die Kritik überhaupt als etwas Werthloscs darzustellen; allein diese Art
des Beweises überzeugt niemanden als die Eigenliebe des Poeten.

Ein Kritiker der letztern Art ist Rosenkranz gewiß nicht. Er fühlt das
wol zum Theil selbst, er ist es aber noch weniger, als er selbst es meint. ES
hängt das zum Theil mit einer schönen Seite seiner Natur und seiner schrift¬
stellerischen Thätigkeit zusammen. Alle seine Werke machen den Eindruck großer
Liebenswürdigkeit und zeigen eben dadurch, daß ihr Verfasser kein Kritiker ist.
Wer urtheilen d. h. das Gute vom Schlechten sondern will, muß sich noth¬
wendigerweise entschließen, zuweilen höchst unliebenswürdig, ja ganz erstaunlich
unliebenswürdig zu sein. Aus demselben Grunde sagte Goethe von sich mit
Recht, daß er nicht zum tragischen Dichter geboren war, weil seiner Natur der
unvermittelte Contrast widerstrebte.

Für diejenigen, die mit Nosenkranzs Schriften bekannt sind, wird eS
wol nöthig sein, für diese Behauptung Belege aufzustellen., Neben dem geist¬
vollsten und treffendsten Urtheil stößt man in seinen Schriften zuweilen auf
so erstaunliche Behauptungen, daß man sie eben nur aus jener liebenswürdigen
Neigung, alle Contraste zu vermitteln, erklären kann. Nicht etwa, als ob
Rosenkranz nur dem Publicum gegenüber aus Schonung mit seiner Meinung
zurückhielte, sondern seine Liebenswürdigkeit täuscht ihn selbst, und er findet
das Schlechte gut, obgleich er Einsicht genug haben würde, es schlecht zu
finden.


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des Kunstwerks zu bedeuten hat, von welchen Absichten und Entwürfen der
Dichter ausging, warum er diese Mittel zur Ausführung derselben anwandte
und keine andern, inwiefern ihm der sittliche Inhalt, die geistige und die
technische Vorarbeit seiner Zeit zu Hilfe kam, welche Bedingungen und Grenzen
sie ihm stellte u. s. w. Diese objective oder philologische Interpretation ist ein
sehr wichtiger Theil der Kritik, aber sie ist nicht das Ganze, denn die Sach¬
walter des Naturwuchses mögen sagen, was sie wollen, es gibt auch einen
absoluten Maßstab der Kritik. Pope ist zu seiner Zeit ebenso gefeiert worden
als Shakspeare, und heute weiß doch jeder Schulknabe-, daß Shakspeare ein
großer und Pope ein mittelmäßiger Dichter war. Dieses Urtheil, an dessen
Unumstößlichkeit niemand mehr zweifelt, würde die blos interpretirende Kritik
niemals zu Stande bringen. Die zweite Seite der Kritik ist daher ebenso
wichtig wie die erste. Der Kritiker muß erstens feststellen, welchen absoluten
Werth das Kunstwerk hat; er muß zweitens feststellen, wie sich die einzelnen
Theile desselben zu der Idee des Ganzen verhalten, und er muß drittens die
objectiven Gründe dafür entwickeln. Es hat allerdings zu allen Zeiten Kritiker
gegeben, die sich willkürliche Gründe und Maximen ersannen, nach denen sie
ihr Urtheil abwogen, und zu allen Zeiten hat es Dichter gegeben, die bei
jeder Anfechtung von Seiten der Kritik auf diese schlechten Kritiker hinwiesen,
um die Kritik überhaupt als etwas Werthloscs darzustellen; allein diese Art
des Beweises überzeugt niemanden als die Eigenliebe des Poeten.

Ein Kritiker der letztern Art ist Rosenkranz gewiß nicht. Er fühlt das
wol zum Theil selbst, er ist es aber noch weniger, als er selbst es meint. ES
hängt das zum Theil mit einer schönen Seite seiner Natur und seiner schrift¬
stellerischen Thätigkeit zusammen. Alle seine Werke machen den Eindruck großer
Liebenswürdigkeit und zeigen eben dadurch, daß ihr Verfasser kein Kritiker ist.
Wer urtheilen d. h. das Gute vom Schlechten sondern will, muß sich noth¬
wendigerweise entschließen, zuweilen höchst unliebenswürdig, ja ganz erstaunlich
unliebenswürdig zu sein. Aus demselben Grunde sagte Goethe von sich mit
Recht, daß er nicht zum tragischen Dichter geboren war, weil seiner Natur der
unvermittelte Contrast widerstrebte.

Für diejenigen, die mit Nosenkranzs Schriften bekannt sind, wird eS
wol nöthig sein, für diese Behauptung Belege aufzustellen., Neben dem geist¬
vollsten und treffendsten Urtheil stößt man in seinen Schriften zuweilen auf
so erstaunliche Behauptungen, daß man sie eben nur aus jener liebenswürdigen
Neigung, alle Contraste zu vermitteln, erklären kann. Nicht etwa, als ob
Rosenkranz nur dem Publicum gegenüber aus Schonung mit seiner Meinung
zurückhielte, sondern seine Liebenswürdigkeit täuscht ihn selbst, und er findet
das Schlechte gut, obgleich er Einsicht genug haben würde, es schlecht zu
finden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/251>, abgerufen am 23.07.2024.