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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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nach der Lectüre zu einem abweichenden Urtheil veranlaßt sah, aber man mußte
es doch immer dem wohlwollenden und fein empfindenden Lehrer Dank wissen,
in der Periode, wo man noch am meisten empfänglich ist, den Blick auf die
Quellen neben dem Dürstenden hingelenkt zu haben.

Von diesem Standpunkt aus wollen auch die Vorlesungen über Goethe
gewürdigt sein. Einiges von Goethe ist auch in Rastenburg und Lyk bekannt,
den Götz von Berlichingen, den Clavigo, den Werther und Aehnliches hat
auch der massurische Gymnasiast gelesen; eS kam also weniger darauf an, diese
bekanntern Werke zu interpretiren, die ohnehin kaum einer Interpretation
bedürfen, als darauf hinzuweisen, wie viel Großes, Bedeutendes und Schönes
sich auch hinter den weniger bekannten Schriften versteckt, ti5 man nur liest,
wenn man gewissermaßen äußerlich dazu genöthigt wird. Daraus erklärt sich
wenigstens zum Theil die Vorliebe, mit der die schwächeren Schriften Goethes
behandelt sind, die Wanderjahre in., und der Eifer, mit dem Rosenkranz alles
hervorsucht, was auf diese Werke ein günstiges Licht zu werfen geeignet ist.

Es würde indeß ungerecht sein, wenn man nur die gute pädagogische
Absicht loben wollte. -- Auch die Ausführung ist höchst verdienstvoll. Rosen¬
kranz ist ein geistvoller Mann in der bessern Bedeutung des Worts, freilich
auch Nicht ganz ohne den Beischmack, der dieser Bezeichnung sonst anklebt.
Er hat ein seines Spürtalent für verborgene Schönheiten und weiß das Be¬
deutende, Tiefsinnige und Geistreiche bei andern sehr wohl zu würdigen. Nun
blieb Goethe bis zu den letzten Augenblicken seines Lebens, als er längst auf¬
gehört hatte, ein Dichter zu sein, der hellste Kopf seiner Nation, und jede
Seite seiner spätern Schriften legt ein schönes Zeugniß davon ab. > Es ist
also bei einer Apologie Goethes sehr wohl verzeihlich, wenn man von der
Frage nach der dichterischen Kraft in seinen spätern Schriften ganz absteht und
sich lediglich an den reichen geistigen Inhalt hält. Die Vorlesungen hatten
ursprünglich gar keinen polemischen Zweck, und da ähnliche Verhältnisse, wie
die vorhin geschilderten, sich bei der Jugend des gesammten Vaterlandes vor¬
finden werden, so war die Herausgabe derselben ein nützliches und verdienst¬
volles Unternehmen. Es ist höchst nothwendig, die Funken des Enthusiasmus,
die in Deutschland noch vorhanden sind, in jeder Weise zu hegen, und es ist
durchaus kein Unglück, wenn der Enthusiasmus zuweilen zu weit geht: --
vorausgesetzt freilich, daß er nicht die Gefahr herbeiführt, die Grundsätze, aus
denen unser ganzes sittliches Leben beruht, anzufechten; und dies ist nun die
Seite, bei der ich mich nicht erwehren kann, die Schwächen deö Verfassers
hervorzuheben.

Rosenkranz ist ein geistvoller Lehrer und Schriftsteller, aber er ist kein
Kritiker. Zur Kritik rechne ich zweierlei: die Interpretation und das Urtheil.
Der Interpret wird nachzuweisen haben, was das Einzelne und das Ganze


nach der Lectüre zu einem abweichenden Urtheil veranlaßt sah, aber man mußte
es doch immer dem wohlwollenden und fein empfindenden Lehrer Dank wissen,
in der Periode, wo man noch am meisten empfänglich ist, den Blick auf die
Quellen neben dem Dürstenden hingelenkt zu haben.

Von diesem Standpunkt aus wollen auch die Vorlesungen über Goethe
gewürdigt sein. Einiges von Goethe ist auch in Rastenburg und Lyk bekannt,
den Götz von Berlichingen, den Clavigo, den Werther und Aehnliches hat
auch der massurische Gymnasiast gelesen; eS kam also weniger darauf an, diese
bekanntern Werke zu interpretiren, die ohnehin kaum einer Interpretation
bedürfen, als darauf hinzuweisen, wie viel Großes, Bedeutendes und Schönes
sich auch hinter den weniger bekannten Schriften versteckt, ti5 man nur liest,
wenn man gewissermaßen äußerlich dazu genöthigt wird. Daraus erklärt sich
wenigstens zum Theil die Vorliebe, mit der die schwächeren Schriften Goethes
behandelt sind, die Wanderjahre in., und der Eifer, mit dem Rosenkranz alles
hervorsucht, was auf diese Werke ein günstiges Licht zu werfen geeignet ist.

Es würde indeß ungerecht sein, wenn man nur die gute pädagogische
Absicht loben wollte. — Auch die Ausführung ist höchst verdienstvoll. Rosen¬
kranz ist ein geistvoller Mann in der bessern Bedeutung des Worts, freilich
auch Nicht ganz ohne den Beischmack, der dieser Bezeichnung sonst anklebt.
Er hat ein seines Spürtalent für verborgene Schönheiten und weiß das Be¬
deutende, Tiefsinnige und Geistreiche bei andern sehr wohl zu würdigen. Nun
blieb Goethe bis zu den letzten Augenblicken seines Lebens, als er längst auf¬
gehört hatte, ein Dichter zu sein, der hellste Kopf seiner Nation, und jede
Seite seiner spätern Schriften legt ein schönes Zeugniß davon ab. > Es ist
also bei einer Apologie Goethes sehr wohl verzeihlich, wenn man von der
Frage nach der dichterischen Kraft in seinen spätern Schriften ganz absteht und
sich lediglich an den reichen geistigen Inhalt hält. Die Vorlesungen hatten
ursprünglich gar keinen polemischen Zweck, und da ähnliche Verhältnisse, wie
die vorhin geschilderten, sich bei der Jugend des gesammten Vaterlandes vor¬
finden werden, so war die Herausgabe derselben ein nützliches und verdienst¬
volles Unternehmen. Es ist höchst nothwendig, die Funken des Enthusiasmus,
die in Deutschland noch vorhanden sind, in jeder Weise zu hegen, und es ist
durchaus kein Unglück, wenn der Enthusiasmus zuweilen zu weit geht: —
vorausgesetzt freilich, daß er nicht die Gefahr herbeiführt, die Grundsätze, aus
denen unser ganzes sittliches Leben beruht, anzufechten; und dies ist nun die
Seite, bei der ich mich nicht erwehren kann, die Schwächen deö Verfassers
hervorzuheben.

Rosenkranz ist ein geistvoller Lehrer und Schriftsteller, aber er ist kein
Kritiker. Zur Kritik rechne ich zweierlei: die Interpretation und das Urtheil.
Der Interpret wird nachzuweisen haben, was das Einzelne und das Ganze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/250>, abgerufen am 23.07.2024.