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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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namentlich über den innern Zusammenhang der verschiedenen Lebensfunctionen,
sind doch für seine Anschauungen der Leitton geblieben. Es ist nicht unwichtig,
daß seine Geschichte der bildenden Künste, deren erster Band bereits 1843 er¬
schien, langsam fortschritt, denn er hat dadurch nicht blos Gelegenheit gefunden,
sich die neuern, höchst bedeutenden Entdeckungen anzueignen und sie für seine
Zwecke zu verwerthen, sondern er ist auch in seiner eignen Bildung immer
freier geworden, und wenn man den zuletzt erschienenen Band mit dem ersten
vergleicht, ganz abgesehen von der veränderten Haltung, welche das Material
bedingt, so erfreut man sich an einem ganz außerordentlichen Fortschritt. Im
Anfange sieht es noch aus, als ob die historisch-philosophischen Ideen das
Erste wären, mit dem sich dann der artistische Inhalt wohl oder übel zurecht¬
finden muß, in dem letzten Band dagegen finden wir zwischen diesen beiden
Seiten eine völlig harmonische Einheit. Der Gedanke hat den Stoff durch¬
drungen und überwältigt, und es macht den Eindruck, als ob der Stoff aus
sich selbst heraus sein geistiges Moment hervorbrächte.

In frühern Zeiten pflegte man in der Kunstgeschichte ausschließlich die
Religion als die Vermittlerin zwischen dem Leben und der Idee zu betrachten,
wodurch das Ganze freilich einen sehr einheitlichen Anstrich erhielt, aber den
wirklichen Verhältnissen nicht gerecht wurde. Schnaase bemüht sich nun, für
jeden Zeitraum zunächst über die Totalität aller Lebensbeziehungen klar zu
werden; er faßt den Markt und die Werkstätte ebenso scharf ins Auge, wie
die Kirche und den Palast, und studirt die scheinbar zufälligen Formen der
Tracht, der Haltung und was sonst zum täglichen Umgang gehört, ebenso im
Detail, als die großen Weltverhältnisse. Jedem seiner Abschnitte geht daher
eine ausführliche Beschreibung der Sitten, Gebräuche und Ideen voraus, die
den Fortschritt der allgemeinen Bildung und Gesinnung versinnlichen. Als
Vorstudie betrachtet ist diese Form der Untersuchung nicht nur unbedingt zu
billigen, sondern sie ist nothwendig, denn man wird niemals die Kunst auf
das Leben richtig beziehen, wenn man nicht die Totalität des Lebens bis in
seine Einzelheiten allseitig erforscht hat. Jede Herleitung aus einseitiger
Kenntniß gibt falsche Perspektiven. Ob es dagegen angemessen war, diese
Vorstudien dem Werk selbst einzuverleiben, möge dahingestellt sein. Wäre die
Philosophie der Geschichte schon so weit gediehen, daß der Kunsthistoriker sich
darauf berufen könnte, so wäre es gewiß überflüssig; wie die Sachen aber jetzt
stehen, müssen wir Herrn Schnaase nur Dank wissen, daß er mehr gibt, als
er verheißt, denn seine Darstellung der sittlichen Verhältnisse ist nicht nur
sehr geistvoll, sondern sie beruht auf ernsthaften monographischen Studien,
auf einer reichen Belesenheit in den Quellen des Mittelalters und auf einem
gründlichen Verständniß der allgemeinen Bewegung des Lebens. Der Ver¬
fasser hat eine starke Vorliebe für die Zustände des Mittelalters, die er auch


namentlich über den innern Zusammenhang der verschiedenen Lebensfunctionen,
sind doch für seine Anschauungen der Leitton geblieben. Es ist nicht unwichtig,
daß seine Geschichte der bildenden Künste, deren erster Band bereits 1843 er¬
schien, langsam fortschritt, denn er hat dadurch nicht blos Gelegenheit gefunden,
sich die neuern, höchst bedeutenden Entdeckungen anzueignen und sie für seine
Zwecke zu verwerthen, sondern er ist auch in seiner eignen Bildung immer
freier geworden, und wenn man den zuletzt erschienenen Band mit dem ersten
vergleicht, ganz abgesehen von der veränderten Haltung, welche das Material
bedingt, so erfreut man sich an einem ganz außerordentlichen Fortschritt. Im
Anfange sieht es noch aus, als ob die historisch-philosophischen Ideen das
Erste wären, mit dem sich dann der artistische Inhalt wohl oder übel zurecht¬
finden muß, in dem letzten Band dagegen finden wir zwischen diesen beiden
Seiten eine völlig harmonische Einheit. Der Gedanke hat den Stoff durch¬
drungen und überwältigt, und es macht den Eindruck, als ob der Stoff aus
sich selbst heraus sein geistiges Moment hervorbrächte.

In frühern Zeiten pflegte man in der Kunstgeschichte ausschließlich die
Religion als die Vermittlerin zwischen dem Leben und der Idee zu betrachten,
wodurch das Ganze freilich einen sehr einheitlichen Anstrich erhielt, aber den
wirklichen Verhältnissen nicht gerecht wurde. Schnaase bemüht sich nun, für
jeden Zeitraum zunächst über die Totalität aller Lebensbeziehungen klar zu
werden; er faßt den Markt und die Werkstätte ebenso scharf ins Auge, wie
die Kirche und den Palast, und studirt die scheinbar zufälligen Formen der
Tracht, der Haltung und was sonst zum täglichen Umgang gehört, ebenso im
Detail, als die großen Weltverhältnisse. Jedem seiner Abschnitte geht daher
eine ausführliche Beschreibung der Sitten, Gebräuche und Ideen voraus, die
den Fortschritt der allgemeinen Bildung und Gesinnung versinnlichen. Als
Vorstudie betrachtet ist diese Form der Untersuchung nicht nur unbedingt zu
billigen, sondern sie ist nothwendig, denn man wird niemals die Kunst auf
das Leben richtig beziehen, wenn man nicht die Totalität des Lebens bis in
seine Einzelheiten allseitig erforscht hat. Jede Herleitung aus einseitiger
Kenntniß gibt falsche Perspektiven. Ob es dagegen angemessen war, diese
Vorstudien dem Werk selbst einzuverleiben, möge dahingestellt sein. Wäre die
Philosophie der Geschichte schon so weit gediehen, daß der Kunsthistoriker sich
darauf berufen könnte, so wäre es gewiß überflüssig; wie die Sachen aber jetzt
stehen, müssen wir Herrn Schnaase nur Dank wissen, daß er mehr gibt, als
er verheißt, denn seine Darstellung der sittlichen Verhältnisse ist nicht nur
sehr geistvoll, sondern sie beruht auf ernsthaften monographischen Studien,
auf einer reichen Belesenheit in den Quellen des Mittelalters und auf einem
gründlichen Verständniß der allgemeinen Bewegung des Lebens. Der Ver¬
fasser hat eine starke Vorliebe für die Zustände des Mittelalters, die er auch


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[0213] namentlich über den innern Zusammenhang der verschiedenen Lebensfunctionen, sind doch für seine Anschauungen der Leitton geblieben. Es ist nicht unwichtig, daß seine Geschichte der bildenden Künste, deren erster Band bereits 1843 er¬ schien, langsam fortschritt, denn er hat dadurch nicht blos Gelegenheit gefunden, sich die neuern, höchst bedeutenden Entdeckungen anzueignen und sie für seine Zwecke zu verwerthen, sondern er ist auch in seiner eignen Bildung immer freier geworden, und wenn man den zuletzt erschienenen Band mit dem ersten vergleicht, ganz abgesehen von der veränderten Haltung, welche das Material bedingt, so erfreut man sich an einem ganz außerordentlichen Fortschritt. Im Anfange sieht es noch aus, als ob die historisch-philosophischen Ideen das Erste wären, mit dem sich dann der artistische Inhalt wohl oder übel zurecht¬ finden muß, in dem letzten Band dagegen finden wir zwischen diesen beiden Seiten eine völlig harmonische Einheit. Der Gedanke hat den Stoff durch¬ drungen und überwältigt, und es macht den Eindruck, als ob der Stoff aus sich selbst heraus sein geistiges Moment hervorbrächte. In frühern Zeiten pflegte man in der Kunstgeschichte ausschließlich die Religion als die Vermittlerin zwischen dem Leben und der Idee zu betrachten, wodurch das Ganze freilich einen sehr einheitlichen Anstrich erhielt, aber den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht wurde. Schnaase bemüht sich nun, für jeden Zeitraum zunächst über die Totalität aller Lebensbeziehungen klar zu werden; er faßt den Markt und die Werkstätte ebenso scharf ins Auge, wie die Kirche und den Palast, und studirt die scheinbar zufälligen Formen der Tracht, der Haltung und was sonst zum täglichen Umgang gehört, ebenso im Detail, als die großen Weltverhältnisse. Jedem seiner Abschnitte geht daher eine ausführliche Beschreibung der Sitten, Gebräuche und Ideen voraus, die den Fortschritt der allgemeinen Bildung und Gesinnung versinnlichen. Als Vorstudie betrachtet ist diese Form der Untersuchung nicht nur unbedingt zu billigen, sondern sie ist nothwendig, denn man wird niemals die Kunst auf das Leben richtig beziehen, wenn man nicht die Totalität des Lebens bis in seine Einzelheiten allseitig erforscht hat. Jede Herleitung aus einseitiger Kenntniß gibt falsche Perspektiven. Ob es dagegen angemessen war, diese Vorstudien dem Werk selbst einzuverleiben, möge dahingestellt sein. Wäre die Philosophie der Geschichte schon so weit gediehen, daß der Kunsthistoriker sich darauf berufen könnte, so wäre es gewiß überflüssig; wie die Sachen aber jetzt stehen, müssen wir Herrn Schnaase nur Dank wissen, daß er mehr gibt, als er verheißt, denn seine Darstellung der sittlichen Verhältnisse ist nicht nur sehr geistvoll, sondern sie beruht auf ernsthaften monographischen Studien, auf einer reichen Belesenheit in den Quellen des Mittelalters und auf einem gründlichen Verständniß der allgemeinen Bewegung des Lebens. Der Ver¬ fasser hat eine starke Vorliebe für die Zustände des Mittelalters, die er auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/213>, abgerufen am 23.07.2024.